… sollte man konsultieren bei der Beurteilung unserer jetzigen Krise, … und Kissinger und wohl auch Helmut Schmidt und Bahr und Genscher!
Ja, angesichts unserer Politiker, die nur in der Krise kurzsichtig reagieren, sollte man sich öfter an die Appelle derjenigen Politiker erinnern, die die große Blockkonfrontation bis 1989 entschärften. Prägend war für all diese das wirkliche Erleben des 2. Weltkrieges. Diese Prägung fehlt den heute Regierenden – der Unterschied ist überall fühlbar.
Hier will ich einige Kerngedanken Gorbatschows vorstellen, verweise aber auf die Abrüstungs- Appelle der deutschen Politiker Schmidt, Genscher, Bahr und v.Weizsäcker von 2009 und der US-Politiker Kissinger, Schultz, Nunn und Perry von 2007 (https://www.wz.de/politik/schmidt-weizsaecker-genscher-und-bahr-fordern-atomare-abruestung_aid-31211321 und https://www.wsj.com/articles/SB116787515251566636 – dies der Link zu Kissinger und SChultz). Falls einem hier Lesenden der kommentierte Artikel Gorbatschows zu kurz ist: Weitere Beiträge von Gorbatschow wären das Interview mit Franz Alt aus dem Jahre 2016 und das Gespräch des „Stern“ mit Gorbatschow aus 2013.
Gorbatschow scheint mir – neben den gerade Genannten – deshalb ein gewichtiger Mahner zu sein, weil er jahrelange Erfahrungen in höchsten Positionen mitbringt – und zwar auf der „Gegenseite“. Auch war er nicht parteiisch: Zwar sonnte er sich mit einer gewissen Eitelkeit im Lob des Westens für seine Politik als Parteichef und Präsident der Sowjetunion; so ließ er sich in für mich peinlicher Form im Westen zu seinem 80. Geburtstag feiern. Umso glaubwürdiger ist er aber, wenn er dann doch diejenigen im Westen kritisiert, die sich als „Sieger des Kalten Krieges“ präsentierten und bei denen er eine Art Schadenfreude wahrnahm, als sie ihm 1991 Hilfe in Gestalt von Krediten verweigerten. (Beides sind Gedanken Gorbatschows im Stern-Interview von 2013: /stern-Gespräch mit Michail Gorbatschow%20%20 STERN.DE III 2013.htm#).
Des Weiteren sei gerade hier für Deutschland und jetzt in dieser Situation daran erinnert, dass es wesentlich die Haltung Gorbatschows und seiner Führungsriege damals zu verdanken ist, wenn sich hier in Deutschland keine zwei feindlichen Blöcke mehr direkt gegenüberstehen.
Ich schätze, dass es also klar ist, warum hier gerade an einen Beitrag Gorbatschows erinnert werden soll. Der Beitrag ist vom 16.3.2020, also in der Zeit der Krise, die von 2014 datiert, aber zwei Jahre vor der Zuspitzung im Dezember 2021-24.2.2022. Man findet ihn in deutscher Fassung bei www.neue-entspannungspolitik.berlin. Dort werden auch die Quellen für die russische und englische Fassung genannt.
Gorbatschow nennt unter anderem folgende Krisenmerkmale:
„Die Stimmen, die meinen, dass Krieg und Gewaltanwendung akzeptabel sind, melden sich immer öfter. Atomwaffen werden wieder angepriesen. Krieg liegt wieder in der Luft.“ Gorbatschow sagte dies wohlgemerkt 23 Monate vor dem Beginn des jetzigen Ukraine-Krieges. Oder 9 Jahre nach dem Krieg Frankreichs und GBs gegen die libysche Regierung. Er beschuldigt nicht einseitig solche „Stimmen“ um den jetzigen russischen Präsidenten, sondern sieht solche Kriegstreiber in beiden Lagern.
Dies beweist der nächste Satze Gorbatschows:
„Für alles beschuldigt der Westen Russland, und Russland beschuldigt den Westen.“ Der folgende Satz aber nennt ein Faktum, das man leicht anhand der Daten der jeweiligen Kündigung von Rüstungskontrollverträgen nachkontrollieren kann: „Die Vereinigten Staaten ziehen sich aus den Rüstungskontrollverträgen zurück.“
Wie gefährlich dieser Rückzug aus Kontrollverträgen, zum Beispiel dem „Open-Sky“-Vertrag sein kann, wird im nächsten Satz Gorbatschows deutlich: „Kriegsflugzeuge fliegen immer näher an die Grenzen anderer Staaten, Kriegsschiffe kommen sich gefährlich nahe, Zivilflugzeuge wurden mit Raketen abgeschossen.“
Hier nennt ein ehemaliger Präsident einer Atommacht drei Faktoren, die schon immer leicht eine Eskalation auslösen konnten. Wie gefährlich die Husarenstückchen mit den „Kriegsflugzeugen“ und „Kriegsschiffen“ heute werden könnten, kann man sich dann vorstellen, wenn man berücksichtigt:
- die durch ein Jahr Krieg noch mehr aufgeheizte Stimmung zwischen NATO und Russland;
- den um Finnland und Schweden vergrößerten Raum, wo Flugzeuge und Schiffe auf einander treffen können;
- die vermehrten Gelegenheiten für Eskalationen zu Lande: ich erinnere an das Vorschicken von Migranten zur polnischen Grenze seitens Bjelarus; an die in allen Grenz-Staaten vorhandenen Milizen; an die Minderheitenproblematik, die sich z.B. zeigte, als ein litauischer hoher Politiker die russischen Minderheiten in den baltischen Staaten als „Migranten“ bezeichnete.
- den Verlust an Kommunikationskanälen, über die NATO-Russland sich früher über Irrtümer usw. schnell austauschen konnten.
Der Passus über die Zivilflugzeuge zeigt, wie wenig sich Gorbatschow davor scheut Vorgänge zu erwähnen, die für Russland peinlich sind. Umso klarer dann die Stellen, an denen er Fehler des „Westens“ gegenüber Russland nennt.
Gorbatschow äußert sich grundsätzlich – mit richtig verstandenem Bezug zu Clausewitz
Gorbatschow verweist dann auf einen Zusammenhang, der auch der Grundgedanke dieses Blogs ist: „ Wenn die Konsequenz einer Politik Krieg ist, dann muss man diese Politik abschaffen!“ Erstaunlich ist, dass Gorbatschow in diesem Zusammenhang auch auf Clausewitz kommt:
„Und da gibt es noch den anderen Satz: ‚Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.‘ Der preußische General Carl von Clausewitz würde sich sehr wundern, wenn er erleben müsste wie sich Leute im 21. Jahrhundert noch hinter seinen Worten verstecken.“
Wir meinen: Gorbatschow kommt hier auf der Basis der Äußerungen von Clausewitz zu dem Zusammenhang von Krieg und Politik zu einem Resultat, welches einfach aussieht, aber tiefe Bedeutung hat: wenn eine Politik zu einem Krieg führt, so charakterisiert dieses Resultat „Krieg“ quasi im Umkehrschluss die zuvor verfolgte Politik als kriegerisch. Clausewitz hat diesen Zusammenhang mehrfach formuliert; ich will hier eine Stelle nenne, die nicht so oft zitiert wird:
„Außer diesem faktisch bestehenden Unterschied in den Kriegen muß noch der ebenfalls praktisch notwendige Gesichtspunkt ausdrücklich und genau festgestellt werden, daß der Krieg nichts ist als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln.“
(Carl v.Clausewitz: Vom Kriege. Herausgegeben, kommentiert und erläutert von W. Hahlweg. Bonn 1973, 18. Auflage, S. 179. Fettdruck hier im Original durch Sperrung hervorgehoben)
Übrigens: Gorbatschow hat Recht, wenn er oben formuliert, dass sich „Leute im 21. Jahrhundert noch hinter seinen Worten verstecken“. Denn: Der Krieg des 21. Jahrhunderts hat in seinen Dimensionen so viel mit dem Krieg, den Clausewitz analysiert hat, zu tun wie eine LED mit einem Kerzenlicht (dies ein etwas abgewandelter Gedanke von Werner Hahlweg). Diese Leute heute „verstecken“ sich hinter einer der Hauptlehren von Clausewitz, die aber heute eher das Gegenteil dessen bedeutet, was man kurzfristig darauf ableiten könnte, nämlich eine Rechtfertigung von Krieg. Schon aus dem oben von mir wiedergegebenen Zitat von Clausewitz müsste man heute eigentlich formulieren: Wenn eine Politik in einem Atomkrieg endet (und also in einem Zustand, der mit dem früheren Begriff des „Sieges“ in einem Krieg nichts mehr zu tun hat), so lässt dies Rückschlüsse auf die Art der Politik zu: es war eine Politik, die sich Illusionen machte über das, was heute der Krieg sein kann, wenn man ihn konsequent zu Ende denkt. Diese Politik dachte den heutigen Krieg nicht zu Ende, sie folgte Wunschdenken. Wunschdenken heute in unserer Situation ist zum Beispiel: Der Gedanke des „Sieges“ über die neben den USA stärkste Atommacht.
Noch mal – extra plakativ aus verschiedenen Epochen – historische Beispiele zu dem engen Zusammenhang zwischen der Politik vor und in einem Krieg:
- Wenn Nazi-Deutschland zutiefst rassisch dachte, so führt das zu einer Kriegführung, die rassistisch war, und die sogar kontraproduktive Resultate zeigte: Die Nazi-Führung verzichtete sogar auf den Gewinn von Alliierten, wenn sie diese als „rassisch minderwertig“ einstufte. Auch wurden Armeen von „rassisch minderwertigen“ Gegnern konsequent unterschätzt.
- Wenn Carthago Hannibals Armee nicht genug verstärken kann oder will, so ist das Ausfluss einer kaufmännisch geprägten Politik, die hauptsächlich auf (teure) Söldner setzt, und den Kampf mit Rom eher als eine Krieg um (Handels-)Stützpunkte führt.
- Wenn Ritter sich im Krieg nicht in unserem Sinne logisch und diszipliniert verhalten, so hängt das fundamental mit dem Selbstverständnis des Ritters zusammen, bei dem es auf die persönliche Ehre und nicht auf das Funktionieren in einer disziplinierten Einheit ankommt. Selbst wenn er diszipliniert handeln wollte, könnte er es nicht, denn wie soll ein Ritter z.B. die Flanke einer Schlachtordnung decken mit dem Befehl, sich möglichst nicht in den Kampf verwickeln zu lassen, wenn das Selbstverständnis dieses Ritters und der Ritter untereinander gerade im persönlichen Hervortun besteht.
Gorbatschows Fazit
Wieder Gorbatschow: „Ein anderes, das wichtigste Wort sollte durch die Welt schallen: NACHDENKEN!“ Ja, und eben dafür haben heutige Politiker keine Zeit mehr, wie ich es schon in einem anderen Artikel zur Bismarck-Zeit geschildert hatte.
Gorbatschow:
„Die größte Verantwortung tragen die Großmächte. Da ist es eine Schande, dass die Führungen der USA und Großbritanniens die Einladung Wladimir Putins abgelehnt haben, mit ihnen gemeinsam den 75. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg zu feiern. Damit haben sie die Gelegenheit ausgeschlagen, mit den anderen Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in dieser gefährlichen Zeit mit einer gemeinsamen Erklärung zu bekräftigen, dass ein Atomkrieg nie geführt werden darf!“
Ich meine:
Es ist erstaunlich, dass Gorbatschow hier sich so klar unter Nennung des vollen Namens des russischen Präsidenten positioniert, obwohl er ja kein Freund Putins ist – und dieser auch nicht ein Freund Gorbatschows. Gorbatschow will hier klar machen: Der Westen verweigerte laut Gorbatschow selbst im symbolischen Bereich eine Gleichberechtigung Russlands – und verpasst wieder eine Chance zur Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrollvereinbarung.
Gorbatschow zum Schluss: „Trotz alledem hoffe ich, dass sich Verantwortung gegen das Abenteurertum, und die Vernunft gegen das Chaos durchsetzen wird.“
Ich meine, dass Gorbatschows „Abenteurertum“ inhaltlich passt zu dem Vermächtnis des Generalobersten Beck, wie es in dem Zitat vorliegt, welches ich hier im Blog schon häufiger angeführt hatte, und zwar passt es dort zu dem Wort „Wunschgedanken“: „Die Erfassung und Behandlung militärischer Fragen in ihren Zusammenhängen bis zum Urgrund in systematischer Denkarbeit, die Schritt um Schritt unter gewissenhafter Sicherung des einmal Erfassten das Problem durchdringt, will sorgsam erlernt und geübt sein. Nichts wäre gefährlicher als sprunghaften, nicht zu Ende gedachten Eingebungen, mögen sie sich noch so klug oder genial ausnehmen, nachzugeben oder auf Wunschgedanken, mögen sie noch so heiß gehegt werden, aufzubauen. Wir brauchen Offiziere, die den Weg logischer Schlussfolgerungen in geistiger Selbstzucht systematisch bis zu Ende gehen, deren Charakter und Nerven stark genug sind, das zu tun, was der Verstand diktiert.“
(aus: B. Scheurig, Henning v. Tresckow. Eine Biographie. Frankfurt/M, Wien, Berlin 1980, S. 51. Hervorhebung durch Unterstreichung von mir – die Unterstreichung der Literaturangabe aber hat keine Bedeutung, lässt sich aber hier im Programm auch nicht entfernen …)
Also mein Fazit hier:
Zusammen mit den oben genannten, anerkannten Autoritäten ist zu fordern – und zwar als erste Schritte weg vom Abgrund:
- öffentliche Bekenntnisse der jetzt Handelnden zur ethischen Verwerflichkeit von Atomwaffen;
- (dies funktioniert nur bei)Schaffung einer Sicherheitsarchitektur in Europa ohne „Wunschdenken“ und „nicht zu Ende gedachte Eingebungen“ und „Abenteurertum“
- Überprüfung der Politik der Staaten auf Elemente der Kriegslogik und Friedenslogik
- Schaffung eines Übergewichts von Elementen der Friedenslogik.