Der 22. Juni und der Machtkampf in Russland (24-6-23)


22. JUNI! Ja, dieses Datum ist für wohl jeden Russen in irgendeiner Weise bedeutend!

Am 22. Juni 1941 überfiel Nazi-Deutschland die damalige Sowjetunion und ich will hier nicht wieder die bekannte Zahl nennen, die dieser Krieg auf sowjetischer Seite kostete. Und auch nicht davon sprechen, wie viele Verluste auf die Fehler des „großen“ Stalin vor und in der ersten Phase nach dem Überfall zurückzuführen sind.

Am 22. Juni 1944 startete die Sowjetarmee die Sommeroffensive „Bagration“, in deren Verlauf sie die Heeresgruppe Mitte der Wehrmacht fast völlig vernichtete und in einem Anlauf bis kurz vor Warschau kam. Sie legte dabei ähnliche Geschwindigkeiten vor wie 1941 die Wehrmacht in ihrem „Blitz“-Vormarsch bis vor Moskau. „Bagration“ war übrigens der Name eines der bekanntesten russischen Generale aus dem „Vaterländischen Krieg“ von 1812; das Datum für diese Offensive wurde wohl extra auf den Tag gelegt, an dem drei Jahre zuvor der Überfall stattgefunden hatte.

Ich kann mir vorstellen – und es ist auch durch Quellen deutscher Seite belegt -, mit welch hoher Motivation die meisten der Sowjetsoldaten wegen all dieser Faktoren in diese Offensive hineingingen (man denkt unwillkürlich als Mensch von hier an Goebbels Rede mit der Formel, seine Leute würden in deren Offensive 1945 „hineingehen wie in einen Gottesdienst“).

Ich persönlich erwartete jetzt für den 22. Juni 2023 eine offensive Operation dieser russischen Armee unter Verweis auf die oben geschilderte Geschichte des Datums 22. Juni.

Was passierte: NICHTS dergleichen!!!

NZZ und zdf.heute berichten statt dessen von Machtkämpfen im russischen Apparat, insbesondere zwischen Armee und Söldner-Truppe Wagner. Wagner soll sogar staatliche Gebäude in Rostow (ZDF: „südrussische Stadt Rostow“ – also wohl Rostow am Don) besetzt haben, als Reaktion auf von Wagner behauptete Raketenangriffe der russischen Armee auf ein Wagner-Lager.

Wie peinlich für einen Präsidenten, solch ein Chaos unter sich zu haben!

Was hat dieser sich eigentlich gedacht während der ganzen Zeit, wo Wagner quasi zu einer eigenen Teilstreitkraft ausgebaut wurde – also über mehrere Jahre hinweg?????

Lt. ZDF-heute vom 17.6. soll sogar der russische Präsident zugegeben haben, dass Russland nicht genug moderne Waffen habe, behauptete aber zugleich, dass die Rüstungsindustrie das Problem „zweifellos“ beheben werde.

Es ist völlig irrsinnig, dass der alleinige Chef eines Landes nach fast eineinhalb Jahren Einsatzes seiner Truppen gezwungen ist, öffentlich die genannten Probleme bei den Waffen zuzugeben, andererseits aber keine Zweifel hat, dass diese behoben würden. Was hat der Mann die letzten 16 Monate gemacht. Halt, die Frage ist zu kurz gegriffen! Man müsste fragen, die letzten 20 Monate oder 24 Monate, denn man stürzt sich ja nicht in solch ein Abenteure (die „Spezial-Militäroperation“), ohne sich vorher genügend vorbereitet zu haben.

Oder dieser Präsident dachte, sein Land sei genug vorbereitet, dann hatte er aber schon vor 20 oder 24 Monaten Wahrnehmungsstörungen, denn dann hätte er

  • die Ukraine unterschätzt
  • die Nato unterschätzt,
  • sich und sein Land hoffnungslos überschätzt.

Und übrigens, nein, nicht übrigens, sondern ERSTES: Die diplomatische Vorbereitung des Einmarsches war im Vergleich zu „performances“ seitens der USA so arm und so phantasielos und so läppisch, dass ein Präsident hätte eingreifen und seinen Außenminister entsprechend anweisen müssen. Kein Wunder, dass Lawrow kaum noch in den Medien vorkommt: silent enim colloquia inter arma! (Abgewandeltes Zitat von Cicero, hier: Es schweigen nämlich die (diplomatischen) Gespräche zwischen den Waffen)

Also eine Fehlleistung im kompletten Bereich des Kriegsplanes, Kriegsplan lt. 8. Buch von Clausewitz. Diese Fehlleistung wird noch lächerlicher, wenn man wieder an die Aufnahmen denkt von den „Manövern“ zusammen mit der Obersten Marionette in Minsk, diesem Lukaschenko, dem Typen, der Flüchtende an die polnische Grenze transportierte: Beide versicherten sich voller Genugtuung der hohen Professionalität ihrer Armee und der Zerstörungskraft ihrer Waffen. Ich weiß noch, wie Lukaschenko hämisch grinsend versicherte, die Gegner würden ja merken, wie weit sie ohne (den von ihm gelieferten) Kunstdünger kämen. Es hörte sich an wie: ‚ … wenn ihr erst verhungert‘.

Ich hatte ja direkt nach des Präsidenten Rede vom 22. 2. schon darauf hingewiesen, dass dieser physisch wie mental krank wirke. Neben körperlichen Anzeichen begründete ich dies mit den völlig grenzenlosen Kriegszielen, die dieser Präsident nannte.

(Vor kurzem übrigens sah ich eine Konferenz Putins mit „Militärbloggern“. Dort hatte Putin erhebliche Schwierigkeiten die Zahl 150 000 bzw. 156 ooo zu erinnern bzw. auszusprechen!!!)

Dann kamen die völlig fehlgeschlagenen Offensiven auf Charkiw und Kiew, letztere ja der Versuch einer „Enthauptung“ der Ukraine durch Besetzung der Hauptstadt und möglichst wohl Gefangennahme seiner Regierung, der „Nazis“.

Im Folgenden betonte ich immer wieder die Gefahr, dass Putin und seine Führung durch eigene Fehlschläge und die massiven Waffenhilfen des Westens an die Ukraine so an die Wand gedrängt werden könnte, dass er atomar zurückschlüge. – Gleichzeitig aber erwartete ich immer wieder, dass die russische Führung die Lage noch wenden könnte, so, wie es schon so oft in der Geschichte passiert war nach anfänglichen Misserfolgen. Ich erwartete, dass zum Beispiel

  • endlich eine operativ ins Gewicht fallende Menge an den gepriesenen T 14 „Armata“- Panzern zum Einsatz käme;
  • dass mit den weit reichenden Raketenkräften der doch über Land laufende NATO-Nachschub für Ukraine unterbunden oder doch merkbar reduziert würde. Denn es ist doch der Gipfel des Unsinns, diese Hilfe des Gegners erst einmal gegenüber den eigenen Truppen einsatzfähig werden zu lassen, statt sie rechtzeitig vor dem Eintreffen an der Front irgendwie an der Ankunft dort zu hindern.

(Zu möglichen Ursachen und zur Dimension von Schlamperei und Korruption im Apparat Russlands hatte ich mich schon im Artikel „Bombenstimmung – 2. Teil“ vom 11.1.23 geäußert. Ich hänge die entsprechenden Passagen hier unten an.)

Man hätte erwarten können, dass dieser Präsident seine schwammigen, ausgreifenden Kriegsziele dem schleppenden Verlauf der eignenen Militäroperationen angepasst hätte.

Auch erwartete ich eine bessere „Performance“ der russischen Armee, die ja nach Oberst Reisner vom österreichischen Bundesheer die russische Armeeführung Verbesserungen eingeleitet hatte:

  • beweglichere Artillerie
  • beweglichere Befehlskette
  • umfangreicher, guter Stellungsbaut
  • Drohnen statt (leicht treffbarer) Flugzeugen
  • elektromagnetische Störung der ukrainischen (Aufklärungs-)Drohnen.

Ja, vermutlich reichten diese Verbesserungen für eine erfolgreichere Defensive, wie sie sich jetzt (noch) in der Abwehr der ukrainischen „Gegenoffensive“ zeigt.

Für eine Offensiv-Operation im Stile des 22. Juni 1944 scheint es nicht zu reichen!

Man stelle sich angesichts des Machtkampfes zwischen Armeeführung und Wagner-Führung die Psyche des armen Wehrpflichtigen an der Front vor: hinter sich Uneinigkeit in höchster nationaler Gefahr, vor sich die Waffen des Gegners, die ja dann wohl nach Eingeständnis seines Präsidenten moderner sind als die seiner Armee!!!!

Ist dies nun ein Plädoyer, endlich zusammen mit Selenskyj den militärischen Sieg über Putin oder über Russland vorzubereiten?

Keinesfalls, denn gerade angesichts des Durcheinanders und der eklatanten Schwächen allerseits in der Staatlichkeit Russlands könnte die Hemmschwelle sinken, „die Tür hinter sich zuzuschlagen“, wie es die Nazi-Führung vor ihrem Untergang formulierte. – Dem auf konventionell- militärischem und politischem Gebiet wankenden Gegner müssen gerade deswegen die bekannten „Goldenen Brücken“ gebaut werden. Alles ist sorgfältig abzuwägen im Interesse zukünftiger Generationen, die dann sicher zu einem tragfähigen Ausgleich zwischen Russland und Ukraine kommen werden.

Es darf also jetzt nichts „passieren“, damit später etwas Gutes passieren kann.

Ich verweise auf meinen Artikel: 1866 – Keine Demütigung und die Rede Präsident Kennedys vom Juni 1963 mit der Warnung vor einer „humiliation“ des atomar gerüsteten Gegners (https://www.americanrhetoric.com/speeches/jfkamericanuniversityaddress.html)

P.S. Ich habe oben den Begriff der „Staatlichkeit“ (gossudarstwennost‘)benutzt, den gerade Putin in seiner Rede zum Kriegsbeginn nach meiner Erinnerung oft benutzte. Er wollte damit ausdrücken, dass die Ukraine gar kein Staat sei. Jetzt scheint der Begriff mit seinem Inhalt auf Putin zurückzufallen.

Der oben angekündigte Rückgriff: Ein Ausschnitt aus meinem Artikel „Bombenstimmung, 2. Teil“ vom Januar 23

Exkurs zur tieferen Bedeutung der schlechten Ausrüstung der russischen Soldaten

Ich stand bisher noch unter dem Eindruck, dass eine autoritäre Führung, die auch die Gesellschaft umfassend militarisiert, notwendig auch auf ein entsprechendes hohes Niveau der Ausrüstung dieser Armee achten würde. Der in Moskau vermittelte Eindruck ist der einer „schimmernden Wehr“.

Insofern hat mich die Information General Freudings von oben zur schlechten Ausrüstung der Russen zuerst einmal gewundert, da ja die schlechte Ausrüstung im Einzelnen ein Widerspruch zu der glänzenden Fassade ist. Dann aber ließ mich gerade dieser Widerspruch an ein historisches Beispiel denken. Ich will das kurz schildern im Sinne einer historischen Analogie, die ja meist den Sinn hat, das Bewusstsein für mögliche Charakteristika der Gegenwart zu schärfen.

Ich denke an das historische Beispiel des 2. Kaiserreiches in Frankreich. Äußerlich betrachtet eine reine Erfolgsgeschichte, man denke nur an die Neugestaltung von Paris und die großen Erfolge der französisch-kaiserlichen Armee in Nordafrika, im Krimkrieg und im Krieg gegen Österreich (Schlacht bei Solferino). Eine überall glänzende Fassade. Diese Armee geht 1870 siegessicher in den neuen Krieg, sie baut auf ihre unter Beweis gestellte Kriegserfahrung, auch auf die – zum Teil – besseren Waffen, wie das Chassepot-Gewehr und „Neuheiten“ wie die Mitrailleuse (da kommt mir wieder der Gedanke an das russische Geprotze mit den Überschall-Waffen).

Nur:

Dieselbe Armee ist im deutsch-französischen Krieg schon nach gut 2 Wochen in einer Position, die fast zwangsläufig zu den Katastrophen von Metz, Gravelotte/Saint-Privat und Sedan führt. In gut EINEM Monat ist von dieser kaiserlichen Armee nichts Kampfkräftiges mehr übrig. Das Kaiserreich wird gestürzt.

Was war da passiert? Die Armee ging mit einer schlechten Ausrüstung und Dislozierung in den Kampf. Grund für beides war eine allgemeine Verwaltung und eine Militärverwaltung/Intendantur, die durch Korruption gezeichnet war. Und zwar eine Korruption, die dazu führte, dass viele Einheiten ohne die Ausrüstung den Preußen entgegen zogen, die für die Erfüllung ihres jeweiligen Auftrages nötig war.

Friedrich Engels schreibt damals seine Artikelreihe zum deutsch-französischen Krieg. Im 4. Brief heißt es:

„Er (der frz. Hauptmann Jeannerod) stellt ausdrücklich fest, daß die Verteilung des Feldzugsproviants erst am 1. August begann, daß die Truppen nicht genügend Feldflaschen, Kochgeschirr und andere Lagerutensilien hatten, das Fleisch verdorben und das Brot oft muffig war. Man wird wahrscheinlich sagen, die Armee des Zweiten Kaiserreiches ist bis jetzt von dem Zweiten Kaiserreich selbst geschlagen worden. Von einem Regime, das seine Stützen durch alle althergebrachten Mittel der Geschäftemacherei korrumpieren muß, kann nicht erwartet werden, daß es damit vor der Armeeverwaltung haltmacht. Dieser Krieg war nach dem Geständnis von Herrn Rouher seit langer Zeit vorbereitet; der Anschaffung von Vorräten, besonders von Ausrüstungsgegenständen, war augenscheinlich bei der Vorbereitung die wenigste Aufmerksamkeit geschenkt worden.“ Marx-Engels-Werke, Bd. 17, Berlin (Ost) 1979, S.23

Kann es sein, dass unter der glänzenden Fassade des Putinismus ein ähnlicher Schlendrian und eine ähnliche Korruption dazu führen, dass z.B. die Winterausrüstung mangelhaft ist? Es ist nicht unwahrscheinlich:

  • Die Einmannherrschaft ohne jede Kontrolle dessen, der angeblich alles kontrolliert;
  • Das Oligarchentum, also eine Fortsetzung der Einmannherrschaft im Ökonomischen;
  • Die alte sowjetische Sitte der Tonnagegläubigkeit, die auf die zu liefernde Menge schaut, aber nicht auf deren Qualität. So könnte ich mir vorstellen, dass von einem Rüstungsgut zwar viel an die Front geliefert wird, dort aber nicht funktioniert.
  • Die Tradition der „potemkinschen Dörfer“, also des Aufbaus glänzender Fassaden für den Fall, dass der Zar, der ja bekanntlich weit ist, doch einmal vorbei kommen sollte. So könnte ich mir vorstellen, dass man bei einer Inspektion zwar eine berstend gefülltes Lager an Kleidung vorführte, bei dem aber nur die ersten Regale gute Qualität enthielten, während im hinteren Teil diejenigen Stücke lagen, die wegen mangelnder stetiger Kontrolle schon mal Opfer von Motten oder Mäusen gewesen waren. Wenn dann aber plötzlich große Mengen Kleidung geliefert werden sollen, etwa für die 1. Teilmobilmachung …

Man könnte also von den Auswirkungen auf deren Gründe schließen, auf die innere Verfasstheit Russlands, auch wenn die Geheimhaltung eines solchen autoritären Staates die Sichtbarkeit der Mängel verhindert, bis die Armee und ihre Ausrüstung sichtbar werden, und zwar besonders bei ihren Rückzügen.


Autor dieses Artikels ist:

G. Jankowiak

Sodinger Str. 60

44623 Herne