Fiat Iustitia et pereat mundus – und die „wertegebundene“ Außenpolitik


Nun, das oben stehende Sprichwort ist trotz der lateinischen Sprache keine echt antike Weisheit, sondern soll,  laut Wikipedia, von Papst Hadrian VI. stammen. Also Renaissance. Egal!

Zuerst die Übersetzung des Sprichwortes: Es soll Gerechtigkeit geschehen, auch wenn die Welt zugrundegehen würde. Oder, gepflegter, mit deutschen Konjunktiven: Es geschehe Gerechtigkeit, und ginge die Welt zugrunde.

Bedeutung? Zwei momentan erfundene Beispiele:

  • Jemand wurde auf Basis einer falschen Zeugenaussage zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Jetzt kommt er frei und droht, den falschen Zeugen umzubringen. Der Richter entscheidet entgegen dem Verjährungsgebot, dass der Name des falschen Zeugen veröffentlicht wird. Der Verurteilte und der falsche Zeuge kommen beide bei einem Feuergefecht um. – Es wurde also um des Wertes der „Gerechtigkeit“(also: iustitia) ein Streit mit einem Resultat in Kauf genommen, der – gemessen an der Ausgangslage – für die beiden einen Weltuntergang bedeutete.
  • Ein Staat führt Krieg. Es ist also Geschlossenheit an der „Heimatfront“ gefragt. Eine Zeitung aber entdeckt, dass die Begründung des Lenkers der Nation eine Lüge war. – Soll die Zeitung im Interesse des Wertes der „Wahrheit“ die Lüge aufdecken, auch wenn dabei eine Niederlage des eigenen Staates riskiert wird?

Ja, ich gebe zu, im zweiten Beispiel habe ich vom Wert der „Gerechtigkeit“  aus der Rechtsprechung auf einen anderen Wert übergeleitet.

Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass eine nur „werte-gebundene“ Außenpolitik für das Hochhalten der jeweils propagierten Werte auch bereit ist, die eigene Existenz zu opfern.

Übertragung auf das Beispiel des Ukrainekrieges:

  • Der  Westen stellt den Konflikt als eine Konflikt um den Wert der „Unverletzlichkeit von Grenzen“ dar; andere völkerrechtliche Werte werden erst gar nicht in der Diskussion zugelassen.
  • Russland verletzt eine Grenze, zuerst am 24.Februar 2022, dann jetzt mit dem Beschluss, die vier Provinzen seien russisch.
  • Der Westen muss nun unnachgiebig bleiben, denn sonst würde er ja sich selbst und seinem Wert untreu.
  • Russland reagiert auf diese Unnachgiebigkeit des Westens mit einer eigenen Unnachgiebigkeit.
  • Die russische Armee erleidet konventionell Niederlagen. Stärke kann Russland nur atomar noch zeigen.
  • Russland droht also mit Atombomben und Atomraketen.
  • Es droht eine Eskalation bis zur „gesicherten gegenseitigen Vernichtung“ (ja, das ist ein Grundsatz der Atomkriegsstrategie!!!).
  • Auch angesichts dieses Resultates des Weltunterganges (vielleicht auch nur des Unterganges unserer Welt…) darf der Westen aber nicht nachgeben, auch wenn der Anlass – also das Unrecht an der Ukraine – im Vergleich zum Resultat einen „Wert“ gleich 0 darstellt.

Die Verantwortungsethik und ihregroßen Staatsmänner

Ich erlaube mir einen Schritt in ein Terrain,  das ich nicht studiert habe: das Terrain der Philosophie. Unser Eingangsspruch: Fiat iustitia … ist meiner Meinung nach Ausfluss einer Gesinnungsethik. Gesinnungsethik ist das Gegenteil von Verantwortungsethik.

Beispiele für Verantwortungsethik

  • 1939:  Nazi-Deutschland überfällt Polen. Es handelt dabei zusammen mit der Sowjetunion, gemäß dem „Hitler-Stalin-Pakt“. Die Westmächte aber erklären nur Nazi-Deutschland den Krieg, nicht auch der Sowjetunion, obwohl es ja eigentlich – nach der Gesinnungsethik – geboten wäre, beide Aggressoren zu strafen.  Und es geht noch weiter: Im sogenannten Winterkrieg überfällt die Sowjetunion Finnland. Britische Bomber könnten gerade so die sowjetischen Ölfelder um Baku erreichen, um die Sowjetunion für diese „völkerrechtswidrige Aggression“ zu strafen. In beiden Fällen tut die Führung in London nichts dergleichen.

Wohlgemerkt:

Nach der Gesinnungsethik des „fiat iustitia et pereat mundus“ hätte GB natürlich auch der Sowjetunion den Krieg erklären müssen.

Dann hätte Großbritannien Nazi-Deutschland und die Sowjetunion in eine Kriegsallianz gedrängt: Nazi-Deutschland hätte unter den damaligen Arabern einen Aufstand gegen Briten und Franzosen im Nahen Osten provoziert; die Sowjetunion mit ihrem damaligen sozialrevolutionären Image die kolonialen Völker der beiden Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien zum Aufstand gegen ihre „Herren“ gerufen.

Fazit für damals: Die Gesinnungsethik hätte genau diese kontraproduktiven Folgen gezeitigt. Der „mundus“, die Welt, der Westalliierten wäre zusammengebrochen. Verantwortungsethik dagegen verprellte die Sowjetunion nicht; nach gut eineinhalb Jahren überfiel die eine der beiden Diktaturen Nazi-Deutschland die Sowjetunion. Es entstand die „Anti-Hitler-Koalition“, die Nazi-Deutschland besiegte.

Fazit für heute: Verantwortungsethik wägt ein Unrecht an der Ukraine gegen eine Eskalation zum Weltuntergang ab. Sie macht „Realpolitik“, was beinhaltet, dass man auch mit Menschen/Staaten verhandelt, die so gar nicht zu den eigenen Werten passen.

Verantwortungsethik durchdenkt die Sache vom Ende her!!!

Oder, wieder in den Worten von Generaloberst Beck (1938):

„Die Erfassung und Behandlung militärischer Fragen in ihren Zusammenhängen bis zum Urgrund in systematischer Denkarbeit, Schritt um Schritt, […] will sorgsam erlernt und geübt sein. Nichts wäre gefährlicher als sprunghaften, nicht zu Ende gedachten Eingebungen, mögen sie sich noch so klug oder genial ausnehmen, nachzugeben oder auf Wunschgedanken, mögen sie noch so heiß gehegt werden, aufzubauen. Wir brauchen Offiziere, die den Weg logischer Schlussfolgerungen in geistiger Selbstzucht systematisch bis zu Ende gehen, deren Charakter und Nerven stark genug sind, das zu tun, was der Verstand diktiert.“

Aber hier möchte ich erst einmal stoppen, da sonst der Artikel zu lang wird.

Die Fortsetzung werden Sie an dem im Titel enthaltenen Begriff „Verantwortungsethik“ erkennen. Churchill und die sozialliberale Ostpolitik werden vorkommen.