Werte Leserinnen und Leser!
Es türmen sich ja die Konflikte und Kriege, und die Medien türmen mit: ganz oben ist im Moment Gaza, dann mit einigem Abstand folgt die Ukraine. Um etwas von Serbien/Kosovo oder Armenien oder Mali oder Tschad zu erfahren, muss man sich schon selbst auf die Suche begeben.
Meist erschöpft sich die „Berichterstattung“ in dem gerade aktuellen Geschehnis oder in einer Art von (humanitärem) Mitleid. Genaueres oder Tieferes erfährt man danach – wohl aus Zeitmangel – nicht.
Dieser Mängel wegen: Hier soll heute etwas Grundsätzliches Thema sein, nämlich der allererste methodische Schritt bei jeder Art von Auseinandersetzung: fast immer gibt es etwas Tieferes, oder seit längerem sich Anbahnendes, bevor dann der Funke zündet.
Also in Stichworten: Ursache und Anlass.
Uralt ist diese Erkenntnis! Für unseren Kulturkreis zuerst formuliert wurde sie vom größten altgriechischen Historiker, Thukydides. Dieser stand analysierend vor einem damals welt-erschütternden Ereignis – dem sogenannten Peloponnesischen Krieg. Vielleicht sollte man diesen Krieg eher den „30jährigen Krieg Griechenlands“ nennen. Denn er dauerte mit einer Unterbrechung von 431-404 v.u.Z./v.Chr. Und seine Dimension war derart, dass danach in Griechenland (und dem Westteil Anatoliens) nichts mehr so war wie vorher. Thukydides selbst zu den „Resultaten“:
„Nie wurden so viele Städte erobert und entvölkert, teils durch Barbaren, teils in gegenseitigen Kämpfen (der Griechen), manche bekamen sogar nach der Einnahme eine ganz neue Bevölkerung; nie gab es so viele Flüchtlinge, so viele Tote, durch den Krieg selbst und in Parteikämpfen. Was man von früher immer sagen hörte, aber die Wirklichkeit so selten bestätigte, wurde glaubhaft: Erdbeben, die weiteste Länderstecken zugleich mit ungewohnter Wucht heimsuchten, Sonnenfinsternisse, die dichter eintrafen, als je aus früherer Zeit überliefert, dazu manchenorts unerhörte Hitze und darauf folgend Hungersnot, und schließlich, nicht die geringste Plage, ja zum Teil Vernichterin, die Pest: all dies fiel zugleich mit diesem Krieg über die Griechen her.“
(Buch I, Kapitel 23, in der Übersetzung von G.P. Landmann aus dem 1950er Jahren, behutsam von mir an zwei Stellen verändert)
Und am Ende? Es „siegte“ Sparta über Athen, aber nicht, weil es stärker gewesen war, sondern weil der Perserkönig sich zu seinen Gunsten einmischte und diesem Sparta den Aufbau von Flotten finanzierte. Und zwar der Perserkönig, dessen Vorfahren von den (fast) vereinten Griechen 490 und 480/479 (ja, ja, Marathon und Salamis) aus Griechenland vertrieben worden war!!!
Solch eine selbstzerstörerische Sache also war der „Peloponnesische Krieg“.
Und Thukydides wollte unbedingt begreifen, wie es zu solch einer Selbstzerstörung gekommen war. Was er so hörte, waren die einfachsten gegenseitigen Anschuldigungen, meist aus der Zeit unmittelbar vor dem Krieg, also die „aktuellen Geschehnisse“, oder er hörte herzzerreißende Schilderungen über die Gräueltaten des jeweils anderen, also Sachen mit (humanitärem) Mitleid.
Thukydides war damit nicht zufrieden. Er analysierte:
„Es fing damit an, dass Athener und Peloponnesier (also das Bündnis unter Führung Spartas) den dreißigjährigen Vertrag (von 445 v.u.Z./v.Chr.) aufhoben, den sie nach der Einnahme Euboias geschlossen hatten. Die Ursachen, warum sie ihn aufhoben, und die Streitpunkte schreibe ich vorweg, damit nicht später einer fragt, woher denn ein solcher Krieg in Griechenland ausbrach. Den wahrsten Grund freilich, zugleich den meistverschwiegenen, sehe ich im Wachstum Athens, das die erschreckten Spartaner zum Krieg zwang; aber die beiderseits öffentlich vorgebrachten Beschuldigungen, derentwegen sie den Vertrag aufhoben und den Krieg anfingen, waren folgende (…)“(Buch I, Kapitel 23)
Man sieht hier:
Thukydides geht hier fast noch weiter als ich in der Überschrift oben: er unterscheidet „Ursachen“ von „Streitpunkten“ und diese schließlich von dem „wahrsten Grund“. Die „Streitpunkte“ sind das, was wir meist „Anlässe“ nennen würden. Vom „wahrsten Grund“ bemerkt er noch, dass dies der am wenigsten öffentlich genannte war, also auch der unbekannteste, derjenige, nach dem der Fragende am meisten und tiefsten forschen müsse, übrigens auch der am meisten zurückliegende.
Denn: Das „Wachstum“ Athens, welches ja der „wahrste Grund“ ist, fing direkt nach den Perserkriegen an, also spätestens 479 v.u.Z/v.Chr.
Wir rechnen: der Peloponnesische Krieg begann richtig mit Kriegserklärung und Kriegshandlungen 431 v.u.Z./v.Chr. Die Perserkriege waren 479 beendet. Der „wahrste Grund“ war also zu Kriegbeginn fast 50 Jahre her.
Thukydides beschreibt dann auch diese Spanne von fast 50 Jahren in einem eigenen Abschnitt in Buch I. Er tut dies, weil ohne diese Vorgeschichte der eigentliche Kriegsentschluss der Mächte nur unvollständig erklärt wäre; und unvollständig erklärt würde nach Thukydides bedeuten: man würde daraus die falschen Lehren für die Zukunft ziehen.
Richtiges methodisches Vorgehen also ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass man aus der Geschichte etwas Richtiges lernt.
Fazit für die Friedensführung:
Man muss zum mindesten nachforschend sich bemühen, die Ursache und die Anlässe eines Konfliktes festzustellen.
Noch besser wäre es – mit Thukydides – die eigentliche Ursachen, die (weiteren/näheren) Ursachen und die Auslöser/die Anlässe zu unterscheiden. Und unter Verweis auf Thukydides könnte man noch eine Kategorie einführen: die propagandistisch genannten Vorwände, um die eigentlichen Ursachen und Anlässe zu verschleiern, zu verschönern, zu verharmlosen. Hierzu habe ich unten noch eine Thukydides-Stelle zitiert.
Wenn man diese methodischen Schritte nicht tut, gerät man bei der Gestaltung von Politik unweigerlich auf eine falsche Bahn, wenn man sich auf „die Geschichte“ beruft.
Noch eine Bemerkung zu Urvater Thukydides:
Man sieht an der obigen Passage, wie stark das vorherige Denken ihn noch im Bann hat, denn er spricht ja an einer Stelle davon, dass der Krieg „ausbrach“, während er kurz darauf darauf formuliert „und den Krieg anfingen“. Letzteres ist ja die richtige Anschauung, denn kein Krieg bricht, wie ein Ungeheuer aus dem Käfig, von sich aus aus.
Exkurs I zur unmittelbaren Vorgeschichte oder, modern ausgedrückt, zur medialen Kriegführung
Thukydides macht an anderer Stelle eine schöne Bemerkung über diese „mediale Kriegführung“:
„In dieser Zeit (also schon nach dem Kriegsbeschluss) brachten sie in Verhandlungen gegen Athen lauter Beschwerden vor, um möglichst starke Vorwände zum Krieg zu haben, wenn sie kein Gehör fänden.“ (Buch I, Kapitel 126. Übrigens taten die Athener das Gleiche, Thukydides führt diesen Themenkomplex nur zuerst mit dem Beispiel der Spartaner ein.)
Exkurs II zur Verantwortlichkeit bei weit zurückliegenden Ursachen:
Wie weit müsste man zurückgehen, um die „wahrste Ursache“ und die weiteren Ursachen für den jetzigen Israel-Palästina-Konflikt zu ermitteln? Und, falls diese sehr weit zurückliegen: Wie sieht es dann mit den gegenseitigen Schuld-Zuweisungen aus?
Wie steht es dann mit der Anregung aus dem Schreiben der Bischöfe Polens an die Bischöfe Deutschlands von 1965? Sie regten an, den Nachkommenden keine Schuld anzurechnen.
Wen das interessiert: Der Artikel zum Brief der Bischöfe Polens steht hier im Blog unter: Versöhnung trotz schlimmster Verbrechen, Februar 2023.