(19.9.’22) Überraschende Offensiven, Wunschdenken, Maßlosigkeit


Vor einer Woche kam ich von einem verlängerten Wochenende auf einem einsamen Campingplatz zurück, also ohne die Gelegenheit zur üblichen Medienschau; ich schaltete die Öffentlich-Rechtlichen ein und – die Erholung war sofort weg!

Deutsche Spitzenpolitiker durften dort (neben den Berichten über König Karl III., den von GB) ohne Gegenargumente fordern, die Ukrainer jetzt erst recht mit reinen Offensivwaffen zu versehen, WEIL deren Offensive östlich Charkiw ja so erfolgreich verlaufe.

Das kam mir wie eine seltsame Logik vor. Ich mache die Probe aufs Exempel: ‚Wenn die ukrainische Offensive nicht erfolgreich wäre, bräuchte man ihnen keine (schweren) Waffen liefern … … … .‘

Also,  nicht dass Sie mich missverstehen: Ich bin nicht dagegen, dass ein ukrainischer Erfolg die Wunschträume in Moskau ins Wanken bringt, ja, vielleicht gerade deswegen die Bereitschaft größer wird, Vermittler zu suchen, um dann möglichst bald eine Waffenstillstand hinzukriegen. (Ich erinnere daran, dass ich letztens hier einen Artikel über den „Vermittler“ veröffentlichte.)

Aber man sollte doch im Interesse der beiden Hauptkontrahenten und uns Übrigen hier in Europa maßvoll bleiben und die Gesamtlage kühl wie ein Generalstäbler analysieren:

  • Die Ukrainer wären nicht die ersten in der Weltgeschichte,  die – nach weitem Vorpreschen – plötzlich ihre Fronten überdehnen oder ihren Nachschub gefährden oder gerade wegen ihres Erfolges das Eingreifen eines neuen Staates provozieren, und dann eine schlimme Niederlage erleiden:

man denke als bekanntestes Beispiel an die Nazi-Wehrmacht 1941 vor Moskau und 1942 vor Stalingrad; an den Vormarsch bis zur Marne 1914; oder an die zuerst so erfolgreiche deutsche Offensive ab März 1918, die dann auch wegen des Eintreffens der ersten kampfstarken US-Verbände „versandet“, in eine Abnutzungsphase eintritt und dann in einen umso stärkeren „Zusammenbruch“ mündet; oder an den Gesamtcharakter der Kriege Napoleons, mit den überraschenden Blitz-Feldzügen bis 1806, den mühsamen Siegen bis 1809 und dem Zusammenbruch 1812-1814

  • Russland ist in seiner Geschichte nie stärker gewesen als nach großen Rückschlägen, man denke nur an Dezember 1941. Auch schildert ein Kenner der russischen Seele wie Tolstoj, wie sich das „rechtgläubige Heer“ 1805 ziemlich unmotiviert bis Austerlitz schleppt, dann aber IN DER VERTEIDIGUNG des eigenen Bodens bei Borodino durch ungeheure Leidensfähigkeit die Widerstandskraft der napoleonischen Heere bricht

Keine kühle Analyse, sondern im Gegenteil gefährliches Element eines Stellvertreter-Krieges ist es, jetzt Wunschträume der Ukrainer zu wecken.

Übrigens geht es auf „unserer“ Seite noch schlimmer! Der  „Forschungsdirektor“ der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“, Christian Mölling,  durfte – wieder ohne Gegenargumente – an dem genannten Wochenende fordern, die Ukraine auf lange Zeit aufzurüsten und: sie in die westliche Militärallianz als Mitglied einzubinden.

DAS sind gleich zwei „ROTE LINIEN“ aus Moskauer Sicht. Und nach den roten Linien kommt umso sicherer das letzte militärische Mittel, der (zunächst wohl selektive) Einsatz von Atomwaffen.  Dieser rückt allein schon deshalb immer näher, als die konventionelle Streitmacht Russlands ja eklatante Schwächen zeigt.

Meiner Befürchtung hier widerspricht der österreichische Oberst Reisner im Interview auf ntv vom 16.9. mit einem militärischen und einem politischen Argument: der selektive Einsatz einer Warn-Atombombe auf die ukrainische Offensive würde diese nicht stoppen; der massiertere Einsatz von mehreren Atombomben mit dem Ziel, die gesamte ukrainische Armee stellenweise zu vernichten, würde massiven politischen Schaden für Russlands Prestige gerade auch bei den Schwellenstaaten verursachen und aus diesem politischen Grund unterbleiben. – Hoffen wir, dass Oberst Reisner Recht behält.

Dann sollte man allerdings auch hoffen, dass die Ukraine ihre Offensive nicht bis zum Zusammenbruch der russischen Armee fortsetzen kann. Das mit dem Zusammenbruch jedenfalls lese ich heute (19.9.) bei manchen Medien. Eine Weiterführung der Offensive bis zu so einem Zusammenbruch würde extreme militärische und politische Reaktionen hervorrufen.

„Wunschträumer“ im Westen sollten bedenken: Selbst ein Nachfolger des jetzigen russischen Präsidenten könnte wohl innenpolitisch nicht durchsetzen, dass die NATO Russland zur Hälfte einkreist, also im Norden nahe der „Zarenhauptstadt“ Petersburg und im Süden nahe dem alten Stalingrad.

Im Übrigen: Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO würde natürlich auch die Ukraine ermutigen,  die Krim zurückzuholen und die Ostprovinzen. Auch das müsste ein Politiker in Russland innenpolitisch durchsetzen – aber einen zweiten Gorbatschow werden sie wohl nicht finden. Zur Erinnerung: Nach meinem Kenntnisstand ist auch ein Nawalnij russischer Nationalist.

Fazit:

Kluge interessengebundene Realpolitik würde gerade jetzt versuchen, die Kämpfenden an einen Tisch zu bringen. Die „ultima ratio“ muss heute sein, die Eskalation zu stoppen. Fanatiker auf beiden Seiten stehen wohl bereit, diese Eskalation weiterzutreiben.


Autor dieses Artikels ist:

G. Jankowiak

Sodinger Str. 60

44623 Herne