Ein Interview mit dem Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski: „Die Welt hätte vorgewarnt sein können“


(t-online vom 29.4.’22)

Irgendwann MUSS nach jedem Krieg ein Friedensvertrag verhandelt werden

Ja, es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen dem:

Nahziel Waffenstillstand, ohne den keine ernsthaften

Friedensverhandlungen geführt und eventuell ein Friedens-Vertrag geschlossen werden kann,

und

der Schaffung eines Friedens, der mehr ist als die Abwesenheit von Waffen-Gewalt und Hass.

Zur aktuellen Situation:

Im Kriegsgebiet scheint es für beide Seiten kaum Bewegung zu geben. Das ist erstaunlich

angesichts der riesigen Flanken, die sich beide Seiten darbieten durch den Vormarsch der russischen Armee entlang der Küste

und

dem hier in den Medien behaupteten (und sehr wahrscheinlichen) Bestreben der russischen Führung am 9.Mai einen großen Sieg zu präsentieren.

In diesem Zusammenhang könnte das o.g. Interview wichtige Anstöße geben

Habe vor Tagen das Online-Interview von t-online vom 29.4. mit dem Professor für Osteuropäische Geschichte, Jörg Baberowski gelesen. Der Professor ist  Jahrgang 1961, (ja, das ist wichtig!) und lehrt an der Humboldt-Universität, Berlin; er forscht besonders zum Stalinismus und zur „Geschichte der Gewalt“ (so t-online).

Seine Hauptthesen:

  • Putin hat durch den Zustand der Demütigung Russlands nach 1991 eine starke politische und persönliche Abneigung gegen Machtlosigkeit und Respektlosigkeit i.S. von Demütigungen (meiner Meinung nach gilt das auch für die Mehrheit derjenigen, die diese Zeit miterlebt haben)
  • Er kreidet dies u.a. auch der „Demokratie“ an, da Russland zu der Zeit stark von westlichen Beratern beeinflusst wurde
  • Putin glaubte bis 1999 (und evtl. auch noch 2001 bei der Rede im Bundestag) an eine Zusammenarbeit mit dem Westen
  • Der Umschlag in dieser Haltung kam durch die Bombardierung Serbiens 1999, wo Russland – lt. Baberowski – nicht einmal mehr konsultiert wurde, obwohl Serbien ein enger Verbündeter Russlands ist (meine Ergänzung: das mit der engen Verbundenheit war schon 1914 so)
  • Putin will seitdem ein Imperium wiedererlangen (Baberowski sagt nicht, ob das zaristische oder das sowjetische), er hat als Autokrat, der sich seine Berater aussuchte, kein Gefühl dafür, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken sich in den dreißig Jahren ihres jetzigen Bestehens eine eigene Identität geschaffen haben
  • Er glaubt an den Erfolg durch Krieg, da er vom „Westen“ einen Eindruck der Dekadenz hat: dieser werde einen langen Krieg nicht durchhalten (s. Viktor Orban); Russland dagegen sei genügsam und heroisch
  • Als jemand, der den Krieg als etwas Natürliches ansieht, wird er hohe Verluste und Schäden in Kauf nehmen; Schäden besonders beim Gegner, der dadurch zum abschreckenden Beispiel wird
  • Eventuelle Grausamkeiten der russischen Armee führt Baberowski auch darauf zurück, dass dort heute hauptsächlich die „Verlierer“ der Gesellschaft einen Job gefunden hätten (Hintergrund: Russland ist auf dem Weg von einer Wehrpflicht- zu einer Berufsarmee; das Problem der sozial Deklassierten als Angehörige der Mannschaftsgrade kennt ja auch die US-Armee und die britische Armee; vom Phänomen dieser Art hört man auch immer wieder von der jetzigen Berufs-Bundeswehr)
  • Kanzler Scholz hat Recht mit seiner Zurückhaltung (dies betont Baberowski zwei Mal)
  • Angesichts der Gefahr eines sich lang hinziehenden Krieges und der ungewissen Putin-Nachfolge plädiert Baberowski für einen „neutralen Vermittler“, der einen win-win-Frieden aushandelt (Baberowski erwähnt die drei bekannten Ziele Putins: kein Nato-Beitritt, die Krim und den Donbass oder Teile desselben – das wäre also die russische Position zu Anfang der Arbeit eines solchen Vermittlers, also die der jetzigen russischen Regierung)
  • Wir dürften die Kontakte nach Russland nicht abreißen lassen, auch nicht zu den jetzigen Emigranten von dort, wenn diese zurückkehren.

Warum habe ich das jetzt so lang wiedergegeben?

Entsteht nicht im ersten Teil des Interviews der Eindruck, die Waffenlieferungen und der immer weiter steigende Druck auf Russland sei gut, weil dessen Führung unbelehrbar und grausam ist???

Nun, einige der dortigen Thesen sind ja diskutierbar, so diejenige, dass Putin an die Gewalt und den Krieg glaubt – mir scheint, dass außerhalb des „alten Europa“, und besonders in den USA auch viele an Gewalt und Krieg glauben; die USA z.B. stürzten sich von 1861-1865 in einen durchaus selbst-mörderischen Bürgerkrieg. Und dies anfangs nicht wegen der Sklavenfrage, sondern einfach, weil die Führung in Washington keinen „Separatismus“, also eine Spaltung, dulden wollte.

Aber: Baberowski verweist in seinen letzten Thesen auf die NATUR-Notwendigkeit, dass am Ende von Kriegen IMMER ein Frieden verhandelt werden muss. Und er verweist auch darauf, dass man in solch einer Situation Ansprechpartner in Moskau brauchen wird.

Und hier jetzt noch ein absolut notwendiger Hinweis, der mir bei der Lektüre von Baberowskis Interview kam:

Der „Westen“ sollte einer (möglichen neuen) russischen Führung (und Baberowski selbst verweist ja auch auf die jetzigen Emigranten) bessere Bedingungen und bessere Behandlung einräumen als der „ersten“ demokratischen Generation Russlands nach 1991!!!!! Also ———-  Auch bei „Sieg“:

  • Kein Sieg-Frieden (Hier drängt sich fast die Formel der Bolschewiki von 1917/18 auf: „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“)
  • Keine Überstülpung liberal-westlicher Werte ohne freie Zustimmung der Betroffenen, denn: so eine Transformation müsste ja dann von der neuen „westlichen“ Führungsschicht einer weiter „russisch“ denkenden Bevölkerung aufgezwungen werden. Solch ein Wertetransfer wird ja auch vielfach in den osteuropäischen Ländern, die jetzt am entschiedensten gegen Russland Front machen,  für sich selbst abgelehnt!
  • Möglichkeit der wirtschaftlichen Erholung durch (stufenweises) Ende der Sanktionen (mittlerweile sind wir beim 6. Sanktions-„Paket“)

Der eigentliche Zweck der ganzen Operation sollte ein durch „gerechte“ Bestimmungen für alle akzeptabler Vertrag sein, der möglichst

  • wenig Keime für neue Feindseligkeiten legt, sondern eher
  • Keime für das Entstehen gemeinsamer Interessen (sog. „win-win-Situation) sät und
  • das rationale Aufarbeiten der bisherigen Feindseligkeiten durch feststehende Einrichtungen ermöglicht – ich denke dabei als Beispiel an die polnisch-deutschen Kommissionen für Schulbücher.
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  • Autor dieses Artikels ist:
  • G. Jankowiak
  • Sodinger Str. 60
  • 44623 Herne