Kairos – der rechte Augenblick


Ja, für die alten Griechen war das Wort „Kairos“ ein feststehender Ausdruck für den genau passenden Moment. Der Gedanke kam mir gestern (am 9.Mai) wieder hoch, als ich den französischen Präsidenten und den deutschen Bundeskanzler in ihrer Pressekonferenz sah, der Pressekonferenz, die sich zum Teil auch mit der Beurteilung der russischen/moskauer Feier zu eben diesem 9. Mai beschäftigte. Macron und Schulz äußerten sich also nur Stunden nach der Rede ihres Konkurrenten öffentlich zu dessen Rede!!!

Welch‘ Hetze in der Reaktion – wohl kaum der „Kairos“, oder?

Bei jedweder Friedens-Führung kommt es aber genau wie bei der Krieg-Führung auf

den rechten Augenblick an.

Dies ist noch wichtiger in angespannten Krisenzeiten: wenn man zu schnell reagieren will, übersieht man vielleicht etwas oder trifft nicht den richtigen, überlegten Ton; wenn man zu lange wartet, könnte die eigene Reaktion beim Konfliktpartner schon auf vollendete Tatsachen treffen. Letzteres allerdings scheint in angespannten Krisen besser zu sein  als das vorschnelle Reagieren.

Was bedeutet dieser Befund für die Beurteilung der Pressekonferenz von Macron und Scholz

Die beiden Spitzenpolitiker reagierten noch am gleichen Tag auf die Rede des russischen Präsidenten bei dessen Feier zum 9. Mai in Moskau. Soviel ich weiß, kann keiner der beiden Konfliktpartner des Russen russisch. Als musste Putins Rede erst einmal für Macron auf Französisch und für Scholz auf Deutsch übersetzt werden. Nach meinen Informationen hat das Büro des russischen Präsidenten noch keine Übersetzung des vollständigen Wortlauts der Rede vom 9. Mai veröffentlicht; nur ein Grußwort vom 8. Mai in Auszügen.

Ich würde zu gern wissen, ob die deutsche und die französische Version das Russische genau in den gleichen Nuancen wiedergab. Zumindestens in den öffentlich-rechtlichen Medien habe ich da schon die für die Diplomatie schlimmsten Übersetzungsfehler gesehen. So im Februar,  als Macron zurück aus Moskau von „la Russie et le reste de l’Europe“ sprach und im Fernsehen für die breite Öffentlichkeit dabei herauskam: Russland und Europa.

Kaum auszudenken, wenn solch ein Fehler gestern passiert ist!

Denn es geschah in Moskau das Unerwartete: der russische Präsident verzichtete auf eskalierende Worte, er sprach nicht mehr von der „Demilitarisierung“; er gab sogar Verluste seiner Streitkräfte zu, und zwar in einem Ausmaß, das ihn veranlasste, davon öffentlich zu reden! Von Verlusten bei einer „Spezial-Militär-Operation“, also eigentlich doch nur einer Wiederholung der Operation von 2014, bei der man ja kaum von Verlusten reden kann!!! (Ich vermute, dass alle denkenden Russen diesen Widerspruch bemerkt und daraus ihre Schlüsse gezogen haben.)

Es berichteten also alle von mir besuchten Sender, Putins Rede sei nicht eskalierend gewesen, wenn auch unnachgiebig in zwei der drei bisher genannten Haupt-Kriegsziele.

Wenn die Reaktion des „alten“ Europas sich mehr Zeit gelassen hätte …

Scholz und Macron wiederholten in ihrer Pressekonferenz ihre Standpunkte von vor der Rede Putins, nicht in aggressivem Ton, eher sachlich. Macron gelang auch wieder eine Probe seiner Weitsicht, indem er davor warnte, Russland zu demütigen. Aber war der „Kairos“ dieser ihrer Stellungnahme wirklich bedacht, wirklich „zielführend“???

Hätte man nicht wenigstens noch einen Tag länger mit der „Antwort“ warten und die Rede Putins ausloten können? Warum in dieser der Verzicht auf die Erwähnung der „Demilitarisierung“,  warum das Zugeben von beträchtlichen Verlusten?

Wäre nicht eine „goldene Brücke“ denkbar gewesen, etwa derart,  dass man in Aussicht gestellt hätte

  • ein Moratorium vor dem möglichen  7. Sanktionspaket
  • eine Verlangsamung bei der Lieferung dieser oder jener „schweren Waffen“ an Ukraine
  • ein erneutes Gespräch innerhalb des westlichen Bündnisses mit einer Bilanz des bisherigen Krieges und der Aussichten auf Friedensmöglichkeiten
  • oder
  • oder
  • oder (ich habe ja kein Außenministerium zur Verfügung)

Heutige Diplomatie setzt sich selbst zu sehr unter Druck, immer sofort reagieren zu müssen. Diese Beschleunigung sollte schnellstens ent-schleunigt werden.

Beschleunigung ist meist keine Grundlage für weise Lösungen.  

Das Folgende nur zum Vergleich, damit man den Stress heutiger Politiker ermessen kann: Reichskanzler Fürst Bismarck entspannte oft die drei Sommermonate auf seinem Landgut Friedrichsruh. Meist ein Mal pro Woche kam ein dickes Paket aus Berlin mit den betreffenden Akten, die der Reichskanzler dann wohl in Ruhe studierte und entspannt beantwortete. Kein Twitter, kein Anruf, keine SMS, keine E-Mails!!!

Etwas davon sollte wir zugunsten einer weisen Friedens-Führung unseren Politikern vorschreiben, damit sie überhaupt die Chance haben zu weisen Gedanken zu kommen.