(der erste Artikel dieser Thematik hatte den Titel: Zwischenstand im Ukraine-Krieg,2.8.’22)
Sie fragen vielleicht: Wieso wieder etwas zu diesem Krieg, wo es doch um Friedens-Führung geht? Ganz ausführlich hatte ich den Zusammenhang schon am 27.5. in dem Artikel über Friedensziele und Kriegshandlungen behandelt. Deswegen jetzt nur ein drastisches Beispiel, um den Zusammenhang von Kriegshandlungen und Friedensgestaltung zu beleuchten.
In der Teheraner Konferenz von 1943 einigten sich Großbritannien und USA auf die „Bedingungslose Kapitulation“ ihres Kriegsgegners Deutschland als Kriegsziel. Da die Gegenseite, die Nazi-Regierung, natürlich nicht „bedingungslos“ kapitulieren wollte, erzwang diese Zielformulierung folgende Aktionen der Alliierten: den Einmarsch nach Deutschland und die Besetzung des Gesamtgebietes und die Absetzung der Regierung mit eigener Regierungsübernahme und die komplette Entwaffnung der Wehrmacht. Es zwang auch schon indirekt dazu, dass die Sieger selbst an der Neugestaltung Deutschlands teilnahmen.
Nach diesem Beispiel kann man sich vorstellen, wie das jetzige Kriegsgeschehen zwischen Russland und der Ukraine + Alliierte auch die Art des Waffenstillstandes und der Friedensverhandlungen und des Friedensvertrages und des Zustandes nach Friedens-Vertrags-Schluss bestimmen wird.
Folgend Grundzüge des Kriegsgeschehens scheinen sich zu zeigen:
- Es gibt keine überragende strategische Luftkriegsführung mit bemannten Flugkörpern (Flugzeugen). Dies fiel schon in der ersten Phase auf. Grund dürfte die Effektivität aller Arten von Flugabwehrwaffen gegen die relativ großen Ziele von Flugzeugen sein. Die Lufthoheit und das zielgenaue Bombardieren der Zonen, in denen die Landstreitkräfte dann den Durchbruch erzielen sollen, scheint es in diesem Krieg jetzt nicht zu geben. (Diese Tendenz passt übrigens zu der Theorie von General Löser, wie sie in dem Artikel „Beispiele für Gegen-Experten“ hier geschildert wurde.) – Zur Illustration des Gemeinten: Massierte Angriffe mit viermotorigen Bombern, die „Bombenteppiche“ werfen, unterstützt von Jagdbombern/Schlachtfliegern, die, niedrig fliegend, Jagd auf Einzelziele machen, führten zum Zusammenbruch der Front der Wehrmacht im Westen im Juli 1944. Rommel hatte immer vor dieser Wirkung von Lufthoheit gegenüber den Landstreitkräften gewarnt.
- Die mangelnde Unterstützung aus der Luft an der Hauptkampflinie führt als ein wichtiger Faktor zur jetzigen Entwicklung: dem
- Stellungskrieg.
- Der Sender „Welt“ berichtete gestern (27.10.22) im Interview mit einem Reporter vor Ort, dass es auf keiner Seite echte Fortschritte gebe. Ähnliches hatten wir schon in dem Artikel „19.9.’22 – Großoffensiven, Wunschdenken, Maßlosigkeit“ vorhergesagt.
- Der Journalist berichtete auch von umfangreichen Stellungsbauten an der Front im Süden bei Cherson seitens der russischen Armee – auch dies ein Beitrag zum Stellungskrieg, da ja die Offensive der UA schon vor gut zwei Wochen stockte – übrigens ebenso wie die Wunderoffensive im Osten. Wenn jetzt noch die Russen Zeit haben sollten, Stellungen zu bauen, und dann noch klimatische Faktoren hinzukommen, so dürften baldige raumgreifende Offensiven kaum noch möglich sein.
- Beide Parteien müssen in einer solchen Situation des „Stellungskrieges“ auf militärischer Seite sich verstärken und auf politischer Seite versuchen den Gegner zu spalten und ihrerseits neue Alliierte zu finden bzw. die bisherigen Alliierten zu einer quantitativen Steigerung von deren Hilfe zu nötigen. Eine qualitative Steigerung zugunsten der UA wäre der Beginn der Lieferung von Kampfpanzern, also den Rammböcken jeder Offensive (da ja schon mit Flugzeugen nicht viel los ist). Aber das wäre dann schon wieder eine qualitative Eskalation!
- Oft führt auch eine Pattsituation wie die jetzige dazu, die Anstrengungen und die Propaganda auf andere Felder auszudehnen. Ich meine, dass das Gerangel um das AKW Saporischschja die Vorstufe war zu den gegenseitigen Beschuldigung mit der „schmutzigen“ Bombe. – In die gleiche Richtung geht dann auch die Ausdehnung der Kampfhandlungen auf zivile und halbzivile Bereiche, wie es die Beschädigung der Brücke zu Krim seitens der UA und die jetzige Bombardierung von Infrastruktur der UA seitens Russlands ist.
- Die Ausdehnung der Bombardierung hat zwei Aspekte, die zu beachten wären:
- Sie ist einmal ein Zeichen für die Ratlosigkeit oder die mangelnde historische Bildung der russischen Führung. Zu keiner Zeit hat das Bombardieren ziviler Ziele zu einem Zusammenbruch der Moral der bombardierten Bevölkerung geführt – und dies gilt im besonderen Maße, wenn nicht Flugzeuge, sondern unbemannte Raketen, Marschflugkörper und Drohnen die Bombardierung durchführen. Denn: Bei bemannten Flugzeugen hat auch der Angreifer immer noch ein Risiko für sich selbst. So meine ich mich zu erinnern, dass die anglosächsischen Luftflotten gegen Deutschland im 2. Weltkrieg Besatzungen in der Größenordnung von 80 000 Mann verloren. Zur jetzigen Tendenz meine ich: das Ganze ist blamabel für die (noch) zweitstärkste Militärmacht der Erde.
- Im Vergleich ergibt sich ein leicht anderes Bild: So eskalierte auch die NATO im Kosovo-Krieg von 1999 die Bombardierung von militärischen auf zivile Bereiche. Am Extremsten waren der Angriff auf einen Zug auf einer Brücke bei Grdelica, der Einsatz von Uranmunition, der „Zielfehler“ mit dem Treffen der Chinesischen Botschaft(!!!) und die Verletzungen bulgarischen Luftraumes. So soll am Ende es mehr zivile als militärische Opfer gegeben haben; fest steht, dass anfangs 430 NATO-Flugzeuge beteiligt waren, am Ende des Krieges schon 1200 Flugzeuge, und dass der NATO-Luft-Oberbefehlshaber die Bombardierung über den 44. Breitengrad ausdehnen wollte. – All dies ein Beweis dafür, dass Erfolglosigkeit schnell dazu führt, dass man auf anderen Gefechtsfeldern oder mit anderen Mitteln eskaliert.
Jetzt aber schleunigst weg vom rein Militärischen!
Gerade weil im Moment eine Art Patt herrscht, und weil so eine Situation im Militärischen wie Politischen schnell eskaliert werden kann, gerade deshalb wäre jetzt die Notwendigkeit, dass ein Vermittler gefunden wird. (Den Vermittler hatte ich am 1.9. hier umrissen)
Die Lösung dieses Vermittlers muss nicht die Weisheit für die nächsten Jahrhunderte sein, dafür dürften die Probleme viel zu komplex sein. Aber man sollte einer nächsten Generation, die vielleicht klüger ist, die Chance geben, ohne kriegerische Mittel aus der Situation herauszufinden!
Eine temporäre Lösung für jetzt – als Chance für eine Zukunft
Zur Illustration des Gemeinten hier eine völlig hypothetische Situation: Bei den jetzigen „Friedens“-Verhandlungen dominiert noch altes Denken und die Macht des Militärischen; so kommt es dazu, dass Russland die vier Provinzen behält, allerdings mit viel schmalerer Ausdehnung, vor allem im Süden. Das Ganze wird als Provisorium mit Vorbehalten formuliert, ähnlich wie viele Regelungen zur deutschen Frage bis 1989. – Ab da entwickelt sich die Ukraine als Teil des „Westens“ ähnlich kräftig wie Polen seit 1989, Russland stagniert. – Neue Regierungen von neuen Generationen auf beiden Seiten stellen fest, dass der Friedensvertrag von 2022/23 nicht mehr befriedigt: so würden Russland und Ukraine sich freuen, nicht mehr so viele Mittel für eine elend lange Militärgrenze ausgeben zu müssen; die Bevölkerung der 4 (oder 2) Provinzen votierte angesichts des (gerade angenommenen) ukrainischen Aufschwunges mehrheitlich für Zugehörigkeit zur Ukraine; aus Erleichterung über die jetzt erlangte Lösung finden beide eine Lösung für die Krim. Das alles wird flankiert von einer europäischen Sicherheitsordnung, ähnlich der „Verständigung“ zwischen USA und SU seit der Cuba-Krise, die die Verständigung von BRD und DDR flankiert.
Fazit:
Sage niemand, dass dieses Zukunftsbild illusorisch oder naiv wäre! Illusorisch und naiv ist derjenige, der bei einem „Einfach-weiter-so-wie-jetzt“ glaubt, einer Katastrophe entgehen zu können oder, noch naiver, einen „Sieg“ erringen zu können. Vielmehr:
Wer im Jahre 1871 oder 1918 hätte gedacht, dass es zwischen den „Erzfeinden“ Frankreich und Deutschland mal so konfliktarm zugehen würde wie seit 1963 – also schon seit 60 Jahren.
Lesen Sie hierzu meinen Artikel: „Jean Jaures“ vom 2.5.’22