Den 1. Teil des Artikels zum obigen Thema hatten wir mit drei Hauptergebnissen geschlossen:
- Veränderungen der ursprünglichen Kriegsziele durch den Verlauf des Krieges?
- Zeitpunkt und Vorbedingungen für Verhandlungs-/Friedensangebote
- Kreativität in der Suche nach unkonventionellen Lösungen für festgefahrene Teilkonflikte (damals: Elsass-Lothringen, heute: Krim)
Beim heutigen 2. Teil geht es um die Bedingungen der geheimen Sondierungen, die 1917 von dem Unterhändler Prinz Sixtus von Parma-Bourbon. unternommen wurden. Bevor wir aber in einem 3. Teil zu diesem Herrn und seinen Aktivitäten im Einzelnen kommen, möchte ich – wie gesagt – im Rahmen eines „Historischen Kontextes“ die damaligen Handlungsbedingungen nennen.
In diesem Artikel werden oft die vielen Faktoren genannt, die ein Ereignis begleiten. Das wirkt vielleicht auf Sie ermüdend, ist aber von mir extra so eingerichtet, damit immer fühlbar wird, unter wie vielen Einflüssen entschieden wurde und wird; ja, man muss allerdings auch sagen: unter wie vielen NICHT wahrgenommenen und verarbeiteten Einflüssen die (damaligen) Entscheider handelten – oft, indem missliebige Informationen einfach beiseite geschoben wurden.

(aus:
Friedrich, Ernst: Krieg dem Kriege. Frankfurt/M. 1981 (10), S. 60 (Zweitausendeins)
Die Phase der offiziellen Noten der Konfliktparteien und des Vermittlers Wilson ging zu Ende mit der Antwort der Entente vom 20.1.’17 auf Präsident Wilsons Vorschläge und mit der Verkündung des „Uneingeschränkten U-Boot-Krieges“ am 1. Februar 1917.
Ab da beginnen auch die geheimen Sondierungen von Sixtus, diese werden aber beeinflusst von der Perzeption der sich jeweils entwickelnden Situation, wie sie durch die Führungspersonen bei allen Parteien stattfand. Hierbei war diese Perzeption oft innerhalb einer nationalen Führung unterschiedlich: Zivilisten – Militärs, (geborene) Herrscher – Fachpolitiker.
Zu diesen Unterschieden kommen noch die Veränderungen, die durch die jeweilige Lage sich entwickeln: gute oder schlechte Nachrichten über die Lage an der (jeweiligen) Front, in der (jeweiligen) Heimat, beim besonders beobachteten Gegner. All dies entwickelt sich während der 3 Monate, in denen Sixtus unterhandelte, weiter.

Putzger. Historischer Weltatlas. Bielefeld-Berlin-Hannover. 1969 (Jubiläumsausgabe)
Es geht um Entwicklungen …
– an den Fronten, auch an der des Seekrieges;
– innerhalb der Allianzen und in ihrer Sorge vor dem Ausscheiden von Mitgliedern, bei der Entente durch die russische Revolution, bei den Mittelmächten durch die Schwäche von Österreich-Ungarn und die des Osmanischen Reiches, durch das Hinzutreten der USA zu den Reihen der Feinde;
– bei der Versorgung der Bevölkerung und der Entwicklung der Haltung der Bevölkerung unter den damaligen Hungerbedingungen (sog. „Steckrübenwinter“)
– bei der Wirkung der Propaganda der russischen Revolutionäre in allen Ländern, besonders aber bei den Völkern Österreich-Ungarns und Deutschlands;
– bei den Stellungnahmen der einzelnen Bündnispartner;
– bei den Stellungnahmen innerhalb der Führungen der einzelnen Mitglieder;
– bei den Kriegsanstrengungen, gerade auch der Anstrengungen der USA, die jetzt anlaufen, und deren Perzeption in Wien und in Berlin differiert und oft auch wechselt;
– bei den Absichten und verwickelten Schachzügen des Sixtus.
Im Folgenden sollen zu diesen Bereichen der damaligen Probleme möglichst aussagefähige Beispiele genannt werden.
a) Die Situation an den Fronten, auch an der des Seekrieges
An den Landfronten geschieht – der Jahreszeit entsprechend – noch nicht allzu viel. Beim Seekrieg aber sind die Erfolge für die deutschen U-Boote zunächst überwältigend – bis dann die Seemächte Gegenmittel finden. In den Monaten Februar bis Mai jedoch scheint es so, als ob das „Abschneiden“ GBs von seinem Nachschub gelingen könnte. Das Resultat: bei allen fast flehentlichen Versuchen Österreich-Ungarns die deutsche Führung zur Nachgiebigkeit zu bewegen trifft diese auf einen Optimismus in der deutschen Führung: ein Nachgeben hält man für unnötig, besonders im Streitpunkt Elsass-Lothringen bleibt man hart. Die Führung innerhalb der deutschen Politik wandert endgültig vom zivil-politischen Bereich des Reichskanzlers v.Bethmann-Hollweg zur Obersten Heeresleitung (OHL) um v.Hindenburg und Ludendorff.

b) Innerhalb der Allianzen …
Eine Folge dieser divergierenden Haltung der beiden Mittelmächte ist nun, dass die Führung in Österreich-Ungarn geheime Sondierungen einleitet, um
- entweder wirklich einen Separatfrieden für sich zu erreichen, oder
- die Bedingungen für einen Separatfrieden zu schaffen, um mit diesem Resultat den Bündnispartner, also die deutsche Führung, unter Druck zu setzen.
Wenn wir also jetzt nach der Entwicklung innerhalb der Allianzen und der Entwicklung der Innenpolitik fragen, wie es die Aufzählung oben zeigt, so bleibt als Hauptergebnis:
Österreich-Ungarn ist so anfällig, dass es Schritte zu Separatfriedens-Sondierungen einleitet.
c) die Innenpolitik und die russische Revolution:
Die Versorgung der Bevölkerung Österreich-Ungarns ist so schlecht, dass es z.B. in Mähren am 29.4.’17 zu Hungerprotesten kommt, die dann vom Militär niedergeschlagen werden, wobei hungernde Frauen und Kinder erschossen werden. Diese Brutalität fiel natürlich auf den jungen Kaiser zurück; und zwar in einem Vielvölkerstaat, in dem besonders die Slawen auf die Losungen aus dem revolutionären Russland ansprachen. Im Vergleich behauptete sich also Deutschland mit seiner homogeneren Bevölkerung trotz ähnlichem Hunger stabiler – mit entsprechenden Folgen für die Friedensbereitschaft der zivilen Regierung und der OHL.
Das Jahrhundertereignis der russischen Revolution ruft also innerhalb der Allianz der Mittelmächte bei Österreich-Ungarn Angst vor dem Untergang (der Dynastie) hervor, bei der deutschen Führung jedoch neben dieser Angst hauptsächlich Zuversicht über eine günstigere Gesamtkriegslage, wenn Russland geschwächt würde bzw. zum Ausscheiden aus der Entente bewegt werden könnte.
Exkurs: Die russische Revolution und die Mittelmächte
In dieser Absicht war ja auch der entschiedenste Revolutionär, Wladimir Iljitsch Lenin, von der monarchischen deutschen Führung durch Deutschland in Richtung Russland geschleust worden!!!
Mit dem Auftauchen Lenins und der Bolschewiki kommen in die damalige Diskussion der Elemente eines Friedensschlusses neben Wilsons 14 Punkte mit der Betonung des Selbstbestimmungsrechts der Völker neue Elemente hinzu: keine Annexionen, keine Kontributionen.
Hieraus werden sich später neue Mächtekonstellationen ergeben ,da Russland und Das Deutsche Recih gleichermaßen Opfer des Versailler Friedens nach den Vorstellungen der Westmächte/des Westens werden. Wohlgemerkt: nach der Losung Lenins hätte Deutschland keine Kontributionen oder zumindest das deutsche Volk keine „Reparationen“ an die Westmächte zahlen müssen.
d) Entwicklungen bei den Stellungnahmen der einzelnen Bündnispartner und innerhalb ihrer Führungen
Im ersten von Sixtus besorgten, geheimen Brief Kaiser Karls vom 24. März bietet dieser Frankreich an:
– Rückgabe Elsass-Lothringens von Deutschland an Frankreich, ohne dass Deutschland dafür mit französischen Kolonien entschädigt würde,
– Wiederherstellung Belgiens als Ganzes (auch ohne Einbußen an belgischen Kolonien),
- Wiederherstellung Serbiens unter Hinzufügung von Albanien, damit Serbien einen Zugang zum Meer habe.
Hier endet der sichere Boden für die Forschung, denn:
Sixtus selbst war wohl bereit, Konstantinopel – also die Hauptstadt des mit den Mittelmächten verbündeten Osmanischen Reiches – an Russland zu geben; Kaiser Karl hingegen wollte sich da nicht festlegen, da ja zu dieser Zeit nicht klar war, wie sich die russische Revolution – und damit der Krieg an der Ostfront – weiterentwickeln würde. Außerdem ist zu differenzieren zwischen dem Brief Karls und dem Entwurf zum Brief: im Entwurf ist vom Desinteresse Österreich-Ungarns an Konstantinopel die Rede. Es zeigen sich hier also sowohl im Großen wie im Kleinen Divergenzen innerhalb der k.u.k. Führung , die dann noch vermehrt werden durch die Positionen des k.u.k. Außenministers, Graf Czernin.
Sicher aber ist schon ein Teilergebnis: Sowohl Sixtus wie auch Karl äußern sich hauptsächlich zu Fragen, die den Allianzpartner Deutschland betrafen. Dies ist eine Asymmetrie, die von der Sache her damit zusammenhängt, dass die Friedensfühler zwischen F und ÖU bestanden, diese beiden aber untereinander keine direkten Verhandlungsgegenstände hatten – es gab keine von beiden direkt umkämpften Gebiete.
Spätestens bei der Zweiten Kriegszielkonferenz in Bad Kreuznach am 17. und 18. Mai, an der jetzt auch Österreich-Ungarn teilnahm, war dies der zentrale Kritikpunkt der deutschen Seite: Über Elsass-Lothringen würde nicht verhandelt; es sei „Reichsland“.
Symmetrischer wäre es gewesen, wenn Wien mit Paris über diejenigen Punkte verhandelt hätte, von denen beide direkter betroffen waren. Einer dieser Punkte war das Verhältnis beider zu Italien, und genau hierzu äußerte Wien sich nicht. Es entstand also der Eindruck, Wien sei verhandlungsbereit über Gebiete, die Deutschland für sich beanspruchte, nicht aber verhandlungsbereit über die Gebiete, die mit Italien strittig waren. Von Italien aus gesehen waren das:

- Im Nordosten die Gegen um Trento/Trient und Triest, dort, wo auch die Isonzo-Front verlief;
- im Norden Südtirol.
Im Übrigen wird hier im Sinne des Phänomens der „Langen Dauer“ klar, welch ungeheure Hypothek der Fehler von 1871 für jedwede Versuche einer Verständigung zwischen D und F war: Die Annexion von Elsass-Lothringen entgegen dem (heutigen) Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der dortigen Bevölkerung und natürlich auch entgegen dem (heutigen) Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen vergiftete das Verhältnis der beiden zentralen Völker Europas, es vergiftete durch die Militarisierung die Innenpolitik beider und: sie behinderte die Friedensbemühungen selbst ihrer Alliierten.
Ich verweise hier auf meinen Artikel: Jean Jaurès und die Suche nach unkonventionellen Friedenslösungen. Hoffentlich lernen die Lenker und die Völker heute von diesen geschichtlichen Beispielen. (Auf den genannten Artikel wurde auch oben eingangs verwiesen.)
Fazit
(Natürlich kann man hier die allseits bekannten Sachverhalte wie z.B. das Übergewicht der OHL in Deutschland über die zivile Führung nennen. Ich möchte aber neue Ideen nennen, die meisten alten Sachverhalte stehen in leicht zugänglichen Internet-Texten.. Auch den oben beschriebenen Unterschied zwischen offenen diplomatischen Noten und mündlichen Mitteilungen von geheimen Unterhändlern will ich hier nicht wieder nennen, obwohl dies eine eminente technische Frage von Friedensführung ist.)
Erstens:
Es ändert wie in einer mathematischen Formel das Vorzeichen, wenn Friedenssondierungen am Ende eines Krieges bzw. gegen dessen Ende vorgenommen werden oder inmitten des Krieges.
Beim Berliner Kongress 1878 war ja Russlands Krieg gegen das Osmanische Reich schon zum Stillstand gekommen; es hatten schon bilaterale Besprechungen mit Ergebnissen zwischen den europäischen Großmächten stattgefunden. Besonders letzteres ließ die Haupt-Konferenz in Berlin auf einem ziemlich gesicherten Fundament starten. (siehe auch meinen Artikel: „Der Vermittler“)
Dies führt dazu, dass die diplomatischen Äußerungen aller Beteiligten mit dem Ziel erfolgen, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Dies natürlich nicht, weil man sich plötzlich gern mochte, sondern weil die Aussichten bei einem Scheitern ein Krieg wäre, den alle noch vor sich hätten und der z.B. für GB gegenüber Russland geografisch schwer zu führen wäre, vor allem, weil Frankreich als Bündnispartner wegen seines akuten Konfliktes mit Deutschland nicht zur Verfügung stünde– anders als 20 Jahre zuvor im Krimkrieg.
Bei den Sondierungen hier 1917 sind wir mitten im Krieg, wobei man da auch noch differenzieren muss: Die deutsche Seite wähnte sich am Beginn des Sieges, während Österreich-Ungarn sich am Beginn des Weges zur Niederlage erachtete. Besonders im Bezug auf die Pläne der deutschen OHL handelte es sich also bei Friedenssondierungen oder beim Eingehen auf Friedenssondierungen im Prinzip nur um Manöver zur Spaltung der gegnerischen Allianz.

Gleiches gilt bei der Entente zumindest für Frankreich, welches ja die Sixtus-Sondierungen nur verfolgte, um Wien aus der Allianz mit Berlin herauszulösen; dies sollte dann wieder den Sieg über Deutschland ermöglichen. Und man wähnte sich ja angesichts der Planungen für die Nivelle-Offensive auf dem Weg zum Sieg.
b)
Verhandeln Mächte über symmetrische Probleme, oder streben sie Verhandlungen an über Probleme, die sie beide nicht direkt betreffen oder einen von beiden nicht betreffen, also über asymmetrische Probleme. Dies habe ich für den Fall 1917 oben geschildert. Aktualisierend würde dies bedeuten:
Wenn der jetzige Ukrainekrieg in Wirklichkeit ein verdeckter Konflikt zwischen USA und RU ist, so würden „Friedens“-Verhandlungen erleichtert, wenn sich beide zunächst über ihre „symmetrischen“ Konflikte einigen könnten. Denn: wenn eine der beiden Mächte asymmetrisch argumentiert, so bleiben die symmetrischen Konflikte im Hintergrund weiter zu lösen und vergiften so die Atmosphäre für die Verhandlungen übe die asymmetrischen Konflikte.
Beispiel:Würde zwischen USA und RU über den Status des Donbass verhandelt, ohne dass beide zuerst ihre Konflikte im Rüstungsbereich bereinigt hätten, so würde jede Einzelheit zum Donbass von den übergeordneten direkten gegenseitigen Konflikten überlagert, es käme bei jeder neuen Stufe der Donbass-Verhandlungen dauernd zur erneuten Standortbestimmung der beiden Seiten über ihre Perzeption der jetzt erreichten Stufe ihres direkten Verhältnisses.
(Erläuterung zu „Konflikte im Rüstungsbereich“: all diejenigen Probleme, die beide Seiten seit 1989 in ihren Verträgen zu den Interkontinental- und Mittelstreckenraketen, zum „Open Sky“ usw. geregelt hatten.)