Im letzten Artikel hatte ich Ihnen grundsätzliche Erwägungen zu diesem Thema präsentiert. Ich hatte am Ende versprochen, Ihnen zwei klassische Dokumente hier zugänglich zu machen, die auf ihre Arte die beiden Denkmodelle illustrieren.
Die lineare Denkweise wird repräsentiert durch einen der berühmtesten Soldaten der deutschen Militärgeschichte: Helmuth von Moltke (der Ältere), Graf und Feldmarschall, Chef des Generalstabes während der Einigungskriege von 1866 und 1870/71 seit 1857 bis 1888, dem „Dreikaiserjahr“.

(entnommen der sonst sehr schwachen und idealisierenden Biografie von E.v.Naso: Moltke, Mensch und Feldherr. Hamburg o.J. (2)
Dieser sagte als Neunzigjähriger in einer Reichtstagsdebatte über die Friedenspräsenzstärke des Heeres (der entscheidende Gedanke kommt am Ende, von mir hervorgehoben):
„(…) Nur eine starke Regierung kann heilsame Reformen durchführen, nur eine starke Regierung kann den Frieden verbürgen.
Meine Herren, wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als 10 Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt, – wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegen einander in den Kampf treten; keine derselben kann in einem oder zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen werden, dass sie sich für überwunden erklärte, dass sie auf harte Bedingungen hin Frieden schließen müsste, dass sie sich nicht wieder aufrichten sollte, wenn auch erst nach Jahresfrist, um den Kampf zu erneuern. Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden, – und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte iin das Pulverfass schleudert.
Nun, meine Herren, wo es sich um so große Dinge handelt, wo es sich handelt um, was wir mit schweren Opfern erreicht haben, um den Bestand des Reiches, vielleicht um die Fortdauer der gesellschaftlichen Ordnung und der Zivilisation, jedenfalls um Hunderttausende von Menschenleben, da kann allerdings die Geldfrage erst in zweiter Linie in Betracht kommen, da erscheint jedes pekuniäre Opfer im voraus gerechtfertigt.
Es ist ja richtig, was hier mehrfach betont worden, daß der Krieg selbst Geld und abermals Geld fordert, und daß wir unsere Finanzen nicht vor der Zeit zu Grunde richten sollen. Ja, meine Herren, hätten wir die sehr großen Ausgaben nicht gemacht für militärische Zwecke, für welche der Patriotismus dieses Hauses und der Nation die Mittel gewährt hat, so würden allerdings unsere Finanzen heute sehr viel günstiger liegen, als es gegenwärtig der Fall ist. Aber, meine Herren, die glänzendste Finanzlage hätte nicht verhindert, daß wir bei mangelnden Widerstandsmitteln heute am Tage den Feind im Lande hätten; denn lange schon und auch jetzt noch ist es nur das Schwert, welches die Schwerter in der Scheide zurückhält. (…)“
Unter Wahrung der originalen Orthographie transskribiert aus: Verhandlungen des deutschen Reichstages, 8. Legislaturperiode 1890/92,1.- 6. Sitzung, Mittwoch, 14. Mai 1890
Man sieht hier sehr schön, wie Moltke denkt und argumentiert: Nur die eigene Rüstung verhindert einen Einfall des Feindes in unser Land; für diese Rüstung muss rechtzeitig Geld ausgegeben werden. Finanzielle Opfer sind da in Kauf zu nehmen.
Ab jetzt führe ich diesen Gedankengang weiter: Zivile Forderungen nach Beschränkung der Rüstungsausgaben sind daher grundsätzlich sekundär. Die Sicherheit, geschaffen durch die Anschaffung militärischer Mittel, verträgt keine Sparsamkeit.
Von hier aus können wir auf das Denkmodell des letzten Artikels zurückkommen: Moltke argumentiert linear. Die Sicherheit des eigenen Staates wächst linear mit dessen Bereitschaft zu „pekuniären Opfer(n)“ für Rüstungsausgaben.
Ich persönlich halte Moltke für geistig zu beweglich, als dass er dieses einfache Denken persönlich so geglaubt hätte. Aber natürlich musste er sich auf dem Hintergrund seines Lebens und seiner Stellung so äußern.
Knapp ein Jahrzehnt später kommt dann das „Czaren-Manifest“, das ich Ihnen im Dezember unter dem Titel „Ein Despot ruft zur Abrüstung auf???…“ präsentiert hatte. Ich hoffe, dass der Unterschied zur Gedankenführung Moltkes klar wird, wenn ich folgenden Abschnitt aus dem genannten Artikel hier kopiere. Erst mit diesem Schlüsselgedanken aus dem Zaren-Manifest wird man Problematik der Vorbereitung auf einen Krieg – und zumal einen modernen Krieg unter den Bedingungen von KI und Materialschlachten – gerecht. Erst mit diesen Gedanken deutet sich an, welche gedankliche Durchdringung heute nötig ist, um nicht von einer berechtigten Sicherheitsvorsorge mit auch-militärischen Mitteln zu einem Umschlagen in eine existentielle Bedrohung des Gegners zu geraten. In den Worten des Manifestes:
„ (…) Es ist deshalb klar, daß, wenn diese Lage sich noch weiter so hinzieht, sie in verhängnisvoller Weise zu eben der Katastrophe führen würde, welche man zu vermeiden wünscht (…)“.
Die jetzt politisch Verantwortlichen hier in Europa und den USA scheinen mir gemessen an diesem Standard nicht den Anforderungen zu entsprechen.
Exkurs: Die Friedensführungs-Energien auf dem Prüfstand
Ein interessanter Gedanke zur Friedensführung aber taucht schon in diesem Redeausschnitt an dessen Anfang auf: Das Kriegsbild eines zukünftigen Krieges aus Moltkes Sachkenntnis aus der Sicht von 1890.
Moltke warnt vor den Dimensionen und der Dauer des zukünftigen europäischen Krieges:
„(…)wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegen einander in den Kampf treten“.
Wenn wir diese Prophezeiung einmal völlig ernst nehmen, so müsste man die Anstrengungen der leitenden Politiker in der Julikrise 1914 an diesem Maßstab messen: Es droht im Falle eines Krieges Gefahr für „die Fortdauer der gesellschaftlichen Ordnung und der Zivilisation“.
Haben sie genug Energie in die Friedensführung gesteckt, im vollen Bewusstsein der wahrscheinlichsten Konsequenzen eines europäische Krieges? Dann hätte zum Beispiel die deutsche Regierung nicht erst auf die britische Initiative vom Ende der Krise warten dürfen, die Initiative zu einer europäischen Konferenz – sie hätte sie selbst vorschlagen müssen, aber direkt unter dem noch frischen Eindruck des Attentats auf den österreichischen Thronfolger. Andere Möglichkeit: sie selbst hätte in Wien einen Text für ein Ultimatum an Serbien vorschlagen müssen – und nicht den Blankoscheck ausstellen für das unakzeptable Ultimatum. Übrigens wäre es auch hier um den Zeitpunkt gegangen – die Forderung nach einer Bestrafung der Attentäter und der Hintermänner wirkt anders, wenn sie direkt nach einer Tat gestellt wird und nicht vier Wochen danach kurz vor Ende eines Truppenaufmarsches um das Land herum, dem man die eigentliche Schuld gibt. (Bezüglich des Zeitfaktors verweise ich auf meinen Artikel vom Juni ’22: Kairos – rechter Augenblick.)
Gemessen daran erleben wir eine Führung, die schon die aktive (weil alternativlose) Suche nach Friedenslösungen aufgibt, weil sie zu einem bestimmten Grade schon militärisch-präventiv denkt (‚besser jetzt also später‘) und dann auch noch Wunschvorstellungen huldigt über die Dimensionen und Dauer des Krieges. Kurz: die für eine Friedensführung nötigen gedanklichen Kräfte sind schon für einen anderen Zweck gebunden bzw. verbraucht.