(19.7.24, einen Tag vor dem 20. Juli)
Ja, der Spruch stammt wohl aus einer besonderen Kampfsituation während der Niederschlagung der chinesischen Befreiungsbewegung „Boxer“. Wikipedia schildert die eigentliche Szene so:
„Beim Vormarsch zu den Taku-Forts kam es ab dem 21. Juni zu heftigen Kämpfen und die verbündeten Kolonialmächte (!!!G.J.) mussten sich am 22. Juni vor dem anhaltenden Druck der Boxer schließlich in Richtung Tianjin zurückziehen. Im Umfeld der Kämpfe und des Rückzugs kam es an diesem Tag (…) in der Nähe des Hisku-Forts zu der Szene, die Röchling als Inspiration diente.
Briten und Amerikaner hatten während der Aktion zunächst die Spitze gebildet, nun sollten gemäß des Befehls Seymours die Deutschen, die vorher mit den Russen in der Mitte marschiert waren, die Führung übernehmen, wobei es zu dem namensgebenden Ausspruch Seymours gegenüber dem Kommandeur des deutschen Kontingents Guido von Usedom gekommen sein soll.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/The_Germans_to_the_Front!_(Gemälde), Artikel in der Fassung vom 18.7.24) Röchling war der deutsche Maler, der die Szene malte, Seymour der britische Admiral, der den Oberbefehl über die europäische Streitmacht hatte.
Und heute soll es so etwas wieder geben?
Nun, ich zitiere den Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, nach einem Video im Heute-Journal1 vom 9.7.24:
„Wichtig aber auch das Signal – und das höre ich immer mehr von unseren Partnern -, dass Deutschland vorangeht – und wir führen diese Übung, wir gehen hier voran. Und ich denke in diesem Bereich, in dem wir hier üben, in diesem Artikel-5-Szenario, zeigen wir in den nächsten Wochen, dass wir in der Lage sind, dieses Bündnis zu verteidigen.“
Nebenbei: Gerhartz ist derjenige, der sich mit drei anderen Offizieren von Singapur aus im ungeschützten Handy über die Auswahl von Angriffszielen auf der russischen Krim austauschte!!! – Nun, er hat wohl Geheimhaltung nicht nötig, der ersetzt das durch bulliges Auftreten und Aussehen. Auch rhetorisch hat er was drauf: Anapher von „wir“, Wiederholung des wichtigen „voran“, geheimnisvoller Fachbegriff „Artikel-5-Szenario“, was hier fast schon eine Personifikation im Vergleich zum farblosen „Bereich“ darstellt.
Ihm sekundierte der Kriegsminister, „uns‘ Boris“: „Wenn Sie das hier sehen, was hier aufgebaut ist und was an Flugzeugen hier steht, dann seien Sie sicher, das wird auch auf der anderen Seite der Behringstraße gesehen.“
Der Boris wirkt ja allein schon deswegen so schön kumpelhaft, weil seine Sätze nicht so fein gedrechselt sind, das wirkt volksnah. So ähnlich bedauerte er anlässlich des Rausschmisses aus Mali die nun fehlenden authentischen Übungsmöglichkeiten. Aber er kriegt auch Feinheiten hin, so das dreimalige „hier“ als Antithese zu: die „auf der anderen Seite der Behringstraße“. Dies eine gekonnte Aposiopese = Verschweigung des wahren Adressaten, der Russen.
Alles zusammen wirkt – wenn ich mich nicht irre – wie eine kaum versteckte Drohung.
Wir sind also wieder so weit wie im Kaiserreich: Da wird kaltschnäuzig gedroht und forsch schwadroniert.
Jetzt noch kurz zu den Fakten des Manövers:
Auch hier, am anderen Ende der Welt, zeigt das Bündnis Flagge. Ob es über diese symbolische Bedeutung noch einen Sinn hat, scheint mir zweifelhaft. Denn: Eine russische Bedrohung da oben im Eis quer über die Behringstraße gegen Alaska??? Dort kann man keine wirklichen Kräfte konzentrieren, das können alle prüfen die über den Krieg oben in Lappland von 1941-1944 mal etwas gelesen haben.
Um mal im Denken von Gerhartz und Pistorius zu bleiben: Die ‚Hauptfront‘ verläuft entlang der baltischen Staaten bis runter nach Rumänien. Nur dort könnte (hoffentlich nicht) eine deutsche Luftwaffe effektiv eingesetzt werden. Jeder andere Verwendungszweck gegen Russland ist Quatsch.
Aber vielleicht ging es einfach ums Fliegen im Extremen? Den Spaßfaktor, sozusagen. Von daher verständlich, dass die Piloten und die Luftwaffe und schließlich die Bundeswehr als solche solche Minister gut finden, Minister, die den Soldaten endlich mal Perspektiven eröffnen und nicht dauernd besänftigen, der Friede sei der Ernstfall, wie es in der alten Bundesrepublik ja hieß.
Der Pilot, den seine Vorgesetzten für die Journalisten ausgesucht hatten, äußerte sich für meine Wahrnehmung voller Begeisterung in diesem Sinne: Tiefflug, Abwurf von „Täuschkörpern“, fast scharfgemachte Waffen – alles in Deutschland unmöglich. Übrigens hieß der Pilot Gerald „Titan“ Groß … . Angesichts dieser Größe wird der Iwan wohl richtig Angst haben.
Klar, dass für so spaßiges Flugabenteuer auch Nachteile in Kauf genommen werden müssen: Geschätzte 2 Millionen Flugkilometer2 werden das arktische Klima erzittert haben lassen. (Ich vermute, dass die 2 Millionen nur die „scharfen“ Kilometer umfassen, und nicht die unendlichen Flüge um das gesamte Material da oben in die Einöde zu schaffen.)
All das war begleitet von einer Kommentatorin, die sich in Superlativen erging: Ein so noch nie dagewesenes Manöver, Simulation des NATO-Bündnisfalles, direkt an der Grenze zum Feind, gegen die feindliche Flugabwehr, „realitätsnah wie möglich“, kraftvolle Begleitung des gleichzeitigen NATO-Gipfels. Pistorius ebenso: 70 Maschinen, deutsche Führung.
Also, wenn der Kaiser Wilhelm da gewesen wäre, der hätte von „schimmernder Wehr“ gesprochen.
Besonders pikant fand ich noch, dass manche Maschinen russisch lackiert waren. Man stelle sich vor, was man mit denen für Verwirrung beim ‚Feind‘ säen könnte, später, im „Ernstfall“! Ich meine mich aber zu erinnern, dass das Hissen einer falschen Flagge im Seekrieg ein Kriegsverbrechen darstellt, daher auch der Ausdruck „unter falscher Flagge“. Mag sein, dass wir im Luftkrieg über solche Ritterlichkeiten schon hinaus sind …
Und all dieser Aufwand, dieses Stärke-Zeigen, während uns erzählt wird, dass die BW im jetzigen Zustand nicht einmal in der Lage wäre, das eigene Land zu verteidigen!!! Ich habe diesen angeblich so schlechten Zustand ja höchstens für einige Sparten für möglich gehalten – eine Streitmacht, die 600 „Taurus“ bereit oder auf Lager hat, und Teil eines Bündnisses ist, solch eine Streitmacht ist nicht schlecht ausgerüstet!3
G. Jankowiak
Sodinger Str. 60
44623 Herne
1Weitere Fakten zum Manöver in: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/nato-luftwaffe-arctic-defender-100.html vom Tag davor
2https://wehrtechnik.info/index.php/2024/06/14/pacific-skies-24-luftwaffe-startet-ihre-groesste-weltweite-verlegung/ nennt einige Basisdaten: 38000 km Entfernung pro Flugzeug, wobei Wehrtechnik nur von 30 Flugzeugen spricht, die Personen im Video des heut-journals aber von etwa 70 Flugzeugen.
3Wer sich über den Ausrüstungsstand der Bundeswehr informieren will, möge die Greenpeace-Veröffentlichung: Verschwendet oder effektiv eingesetzt? Militärausgaben in Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich im Vergleich“ einsehen, zu beziehen auf www.greenpeace.de. Zu den Finanzplanungen gibt es von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) den Beitrag mit folgendem Link als erste Orientierung: https://www.imi-online.de/2024/07/08/militaerausgaben-2025-2028-ruestung-ausser-rand-und-band/. Bezüglich der Munitionsbeschaffung könnten Sie meinen Artikel einsehen: „8200 zu 300 ist ein Verhältnis von 27:1“ in meinem Blog „Frieden führen“: https://xn--frieden-fhren-4ob.info
Autor dieses Artikels ist:
G. Jankowiak
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