Eine Welt, frei von Atomwaffen(19-11-22)


(von George P. Schultz, Henry Kissinger, Sam Nunn, William Perry1 vom 4. Januar 2007)

Obwohl ich im Folgenden Schwächen des Appells nenne, halte ich den Appell selbst für die Einschätzung der heutigen Gefahrenlage für wertvoll: er ist von „Fachleuten“, die Fachleute sind schon damals alarmiert gewesen, die Lage bei der Rüstungskontrolle hat sich entgegen dem, was die Fachleute schon damals für nötig hielten, extrem verschlechtert. – Zudem ist der Appell die Basis für den 2009 folgenden Appell von Schmidt, Genscher, Bahr, v.Weizsäcker.

(Die Übersetzung hier hält sich stark an den nominal geprägten Stil des US-Originals; es war nicht das Ziel, eine glatt lesbare deutsche Version zu präsentieren. An einigen Stellen wollte ich mich auf einen Begriff als Übersetzung nicht festlegen; dort habe ich Alternativbegriffe mit „/“ eingefügt. Ebenfalls wurden Einzelworte oder Redewendungen in diesem Kursivdruck eingefügt, wo eine Ergänzung des Originalsatzbaus mir für das Verständnis nötig schien. Überall, wo die Autoren das englische „nuclear“ verwenden, habe ich dies durch „atomar/Atom“ ersetzt)

„Atomwaffen stellen heute fürchterliche Gefahren dar, aber auch eine historische Gelegenheit. Die Führerschaft der USA wird benötigt werden um die Welt zu einer nächsten Stufe zu heben — zu einer soliden Übereinstimmung bei der Umkehrung des Vertrauens in Atomwaffen auf der ganzen Welt als ein wichtiger Beitrag zur Verhinderung ihrer Weitergabe in potentiell gefährliche Hände, und schließlich zu ihrer Beendigung als einer Drohung für die Welt.

Atomwaffen waren notwendig um die internationale Sicherheit während des Kalten Krieges aufrechtzuerhalten, weil sie ein Mittel der Abschreckung waren. Das Ende des Kalten Krieges machte die Doktrin der gegenseitigen sowjetisch-amerikanischen Abschreckung obsolet. Abschreckung ist weiter eine relevante Ansicht für viele Staaten mit Blick auf Drohungen von anderen Staaten. Aber das Vertrauen auf Atomwaffen zu diesem Zweck wird zunehmend riskant und abnehmend effektiv.

Nordkoreas kürzlicher Atomtest und Irans Weigerung sein Programm zur Anreicherung von Uran – möglicherweise bis zur Waffenreife – zu stoppen beleuchten grell die Tatsache, dass die Welt nun am Abgrund einer neuen und gefährlichen atomaren Ära steht. Am meisten alarmierend ist, dass die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass nichtstaatliche Terroristen Atomwaffen-Ausrüstung in ihre Hände bekommen. Im heutigen im Weltmaßstab geführten Krieg von Terroristen sind Atomwaffen die äußersten Mittel der massiven Verwüstung. Und nichtstaatliche Terroristengruppen mit Atomwaffen stehenvom Wesen her außerhalb der Grenzen einer Abschreckungsstrategie und stellen schwierige neue Herausforderungen an die Sicherheit.

Abgesehen von der terroristischen Bedrohung, werden die Vereinigten Staaten – wenn nicht dringende neue Aktionen unternommen werden – bald gezwungen sein eine neue Atom-Ära zu betreten, die prekärer/risikoreicher, psychologisch desorientierend und wirtschaftlich sogar kostspieliger als die Abschreckung des Kalten Krieges sein wird. Es ist weit entfernt von sicher, dass wir die alte Sowjet-Amerikanische „gegenseitige gesicherte Zerstörung“ angesichts einer steigenden Anzahl möglicher atomar bewaffneter Feinde erfolgreich kopieren können, ohne das Risiko, dass Atomwaffen benutzt werden, dramatisch zu steigern. Neue Atomstaaten haben nicht den Vorteil/die Wohltat von Jahren (einer Entwicklung) von Schritt-für-Schritt Sicherheitsmechanismen, die während des Kalten Krieges zur Wirksamkeit gebracht wurden um Atomunfälle, Fehlurteile oder unautorisierte Starts/unautorisiertes Abfeuern zu vermeiden. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion lernten von Fehlern, die weniger als schicksalhaft waren. Beide Länder waren sorgfältig bei der Sicherstellung, dass keine Atomwaffe während des Kalten Krieges durch Absicht/nach Plan oder durch einen Unfall benutzt wurde. Werden neue Atomnationen und die Welt so vom Glück begünstigt2 in den nächsten 50 Jahren sein wie wir es waren während des Kalten Krieges?

(…)

Lenker von Staaten haben sich öffentlich zu diesem Problem schon früher geäußert. In seiner Rede „Atom für den Frieden“ vor den Vereinten Nationen im Jahre 1953 verpflichtete D.D. Eisenhower Amerikas Entschlossenheit zu helfen das fürchterliche atomare Dilemma zu lösen – (nämlich) sein ganzes Herz und seinen ganzen Verstand zu widmen um den Weg zu finden, durch den die wunderbare Erfindungsgabe des Menschen nicht seinem Tode gewidmet wäre, sondern seinem (Über)Leben. J.F. Kennedy, sagte, als er versuchte die Sperre gegenüber atomarer Abrüstung zu brechen: „Die Welt sollte nicht ein Gefängnis sein, in welchem der Mensch seine Hinrichtung erwartet.“

Rajiv Gandhi formulierte den Appell, als er am 9.6.88 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprach: „Der Atomkrieg wird nicht den Tod von Hundert Millionen Menschen bedeuten, oder selbst von Tausend Millionen. Es wird die Ausrottung von vier Tausend Millionen bedeuten: das Ende des Lebens, wie wir es auf unserem Planeten Erde kennen. Wir kommen zu den Vereinten Nationen um Ihre Unterstützung zu suchen. Wir suchen Ihre Unterstützung um diese Verrücktheit zu stoppen.“

Ronald Reagan rief zur Abschaffung „aller Atomwaffen“ auf, die er für „völlig irrational, völlig inhuman, gut für nichts außer fürs Töten, möglicherweise zerstörerisch für das Leben auf der Erde und die Zivilisation“ hielt. Michail Gorbatschow teilte diese Vision, die auch von vorigen Amerikanischen Präsidenten ausgedrückt worden war.

Obwohl Reagan und Herr Gorbatschow in Reikjavik keinen Erfolge hatten das Ziel einer Übereinkunft zu erreichen, alle Atomwaffen loszuwerden, hatten sie Erfolg dabei, das Wettrüsten auf den Kopf zu stellen/unzukehren. Sie initiierten Schritte, die zu bedeutenden Verminderungen der aufgestellten Lang- und Mittelstrecken-Atomstreitkräfte führten, die Abschaffung einer ganzen Klasse von bedrohlichen Raketen eingeschlossen.

Was wird es kosten die Vision, die von Reagan und Herrn Gorbatschow geteilt wurde, mit neuem Licht zu erfüllen? Kann ein weltweiter Konsens geschmiedet werden, der eine Reihe von praktischen Schritten beschreibt, die zu wesentlichen Verminderungen der atomaren Gefahr führen? Es gibt eine drängende Notwendigkeit die Herausforderung anzunehmen, die von diesen zwei Fragen gestellt wird.

Der Nichtverbreiterungs-Vertrag NPT3 nahm das Ende aller Atomwaffen in den Blick. Er sieht vor a) dass Staaten, die vom Zeitpunkt 1967 keine Atomwaffen besaßen, zustimmten keine zu erlangen, und b) dass Staaten, die sie besaßen, zustimmen sich dieser Waffen zu entledigen. Jeder Präsident beider Parteien4 seit R. Nixon hat diese Vertragsverpflichtungen bestätigt, aber nicht atomwaffenbesitzende Staaten sind zunehmend skeptisch geworden bezüglich der Ehrlichkeit der Atommächte5.

Strikte Nichtverbreiterungs-Anstrengungen sind auf dem Weg. Das „Gemeinsame Bedrohungsverminderungs-Programm“, die „Globale Bedrohungsverminderungs-Initiative, die „Initiative zur Sicherheit vor Verbreiterung“ und die Zusätzlichen Protokolle sind neuartige Ansätze, die machtvolle Werkzeuge vorsehen um Aktivitäten aufzudecken, die den NPT verletzen und die Weltsicherheit in Gefahr bringen. Sie verdienen volle Inkraftsetzung. Die Verhandlungen über die Weiterverbreitung von Atomwaffen durch Nordkorea und Iran, die alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsausschusses6 plus Deutschland und Japan umfassen, sind entscheidend wichtig. Sie müssen energisch verfolgt werden.

Aber für sich allein ist keiner dieser Schritte der Gefahr angemessen. Reagan und Generalsekretär Gorbatschow strebten danach mehr zu erreichen bei ihrem Treffen vor 20 Jahren in Rejkjavik —- die Abschaffung aller Atomwaffen zusammen. Ihre Vision schockierte die Experten für die Lehre/Doktrin der atomaren Abschreckung, aber sie elektrisierte die Hoffnungen von Leuten in aller Welt. Die Leiter der zwei Länder mit den umfangreichsten Lagern von Atomwaffen diskutierten die Abschaffung ihrer mächtigsten Waffen.

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Was sollte getan werden? Kann das Versprechen des NPT und die Chancen, die in Rejkjavik in den Blick genommen wurden, zur Reife gebracht werden? Wir glauben, dass die Hauptanstrengung von den Vereinigten Staaten gestartet werden sollte um eine positive Antwort im Rahmen konkreter Schritte zu erzeugen.

Zuerst und am wichtigsten ist die intensive Arbeit mit den Lenkern der Länder, die im Besitz von Atomwaffen sind, um das Ziel einer Welt ohne Atomwaffen in ein gemeinsames Unternehmen zu verwandeln. Solch ein gemeinsames Unternehmen würde den Anstrengungen, die jetzt schon gemacht werden um das Entstehen von mit Atomwaffen bewaffneten Nordkorea und Iran zu vermeiden, zusätzliches Gewicht verleihen.

Das Programm, zu welchem Zustimmung gesucht werden sollte, würde aus einer Reihe von abgestimmten und dringenden Schritten bestehen, die das Fundament einer von der atomaren Drohung freien Welt legen würden. Diese Schritte würden beinhalten:

  • Die Änderung der Aufstellung/Dislozierung aus dem Kalten Krieg von (schon) dislozierten Atomwaffen um die Vorwarnzeit zu erhöhen und dadurch die Gefahr eines zufälligen oder unautorisierten Gebrauchs einer Atomwaffe vermindern.
  • Weiter die Größe der Atomstreitkräfte substantiell verringern in allen Staaten, die sie besitzen.
  • Kurzstrecken Atomwaffen, die für den frontnahen Gebrauch bestimmt sind, abschaffen.
  • (Dieser Punkt bezieht sich auf Verhandlungen mit dem US-Senat bzgl. der Ratifizierung des Vertrags über umfassende Testverbote)
  • Sorge tragen für den höchstmöglichen Sicherheitsstandard für alle Vorräte an (Atom)Waffen, waffenfähiges Plutonium und hoch angereichertes Urani überall auf der Welt
  • Kontrolle gewinnen über den Prozess der Urananreicherung, verbunden mit der Garantie, dass Uran für Atomreaktoren zu einem vernünftigen Preis bezogen werden könnte, zuerst von der Atom-Liefer-Gruppe( „Nuclear Suppliers Group“), und dann von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) oder anderen kontrollierten internationalen Reserven. Es wird auch notwendig werden sich mit den Verbreiterungs-Problemen zu beschäftigen, die sich durch verbrauchte Brennstäbe ergeben von Reaktoren, die Elektrizität produzieren.
  • Die Produktion von spaltbarem Material für Waffen weltweit anhalten; den Gebrauch von hoch angereichertem Uran im zivilen Handel auslaufen lassen („phasing out“) und Entfernung des waffenfähigen Urans aus Forschungseinrichtungen weltweit und Sicherstellung des Materials.
  • Verdopplung unserer Anstrengungen regionale Konfrontationen und Konflikte zu lösen, die neue Atommächte entstehen lassen.

Die Erreichung des Ziels einer Welt, die frei ist von Atomwaffen, wird auch effektive Maßnahmen benötigen um ein Verhalten, das atomar bezogen ist, das potentiell bedrohlich für die Sicherheit jedweden Staates oder Völker ist, zu behindern oder zu kontern.8

Die erneute Bekräftigung der Vision einer Welt, die frei von Atomwaffen ist, und praktische Maßnahmen in Richtung dieses Ziels würden eine kühne Initiative sein, passend zu Amerikas moralischem Erbe, und sie würde als solche wahrgenommen werden. Die Anstrengung könnte einen zutiefst positiven Einfluss auf die Sicherheit zukünftiger Generationen haben. Ohne die kühne Vision, werden die Aktionen nicht als fair oder drängend wahrgenommen werden. Ohne die Aktionen wird die Vision nicht als realistisch oder möglich wahrgenommen werden.

Wir unterstützen die Zielsetzung einer Welt frei von Atomwaffen und die energische Arbeit für Aktionen, die für die Erreichung dieses Ziels benötigt werden, beginnend mit den oben skizzierten Maßnahmen.“


Im Anhang zu dem Dokument auf der Internetseite der Zeitung „Wall Street Journal“ werden weitere 16 Unterstützer genannt, die meines Wissens alle aus den USA stammen, was mit der Stoßrichtung des Appells zusammenpassen würde, die besondere Verantwortung der USA zu betonen.

2.Im Original „fortunate“

3.Im Original der „Non-proliferation-treaty“

4. Aus dem Kontext kann hier mit „parties“ nur die beiden US-Parteien gemeint sein, nicht die beiden Lager von SU und USA.

5. Meiner Ansicht nach bricht der Gedankengang hier ab, da die Autoren eigentlich hätten erklären müssen, woher diese Skepsis kommt. Sie hätten dann Maßnahmen zur Reduktion diese Skepsis vorschlagen müssen. Statt dessen versichern sie ohne Übergang, dass „strong non-proliferation efforts are under way“ (meine Übersetzung dieser Stelle oben im Text). Es mag allerdings sein, dass die Autoren voraussetzen, die nach dieser Versicherung aufgezählten Maßnahmen könnten die Skepsis abbauen.

6. Gemeint ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der die folgenden 5 ständigen Mitglieder umfasst(e): USA, SU, F, GB, China.

7. Diese Auslassung im Text ist so zu finden auf der Internetseite des Wall Street Journal. Ich habe an der Vorlage nichts gekürzt außer einer Stelle in der unten folgenden Aufzählung

8. Ich halte diese Stelle zusammen mit der, die ich in Anmerkung 5 kommentiert habe, für einen der Gründe, warum dieser Appell im internationalen Rahmen keinen Erfolg hatte: die im Text genannten Atom-Schwellenländer und andere, die Atomwaffen anschaffen wollen, könnten genau diese Stelle als Kampfansage verstehen. Dies umso mehr, da der Text ja den USA eine Hauptrolle bei dem Prozess der Abschaffung der A-Waffen zuweist, während die Mitwirkung anderer Akteure, etwa der UNO, unklar bleibt. Da die Stelle m.E. sprachlich dazu auch noch gewunden formuliert ist, hier die Stelle im Original: „… will also require effectife measures to impede or counter any nuclear-related conduct that is potentially threatening to the security of any state or peoples.“