Krisen-Ermattung (22-10-25)


Sie wundern sich vielleicht über die unübliche Wortschöpfung in der Überschrift; nun, ich übertrage den Begriff der „Ermattung“ aus dem Bereich des Krieges in den Bereich der Konfliktforschung. Mit demselben methodischen Schritt könnte man auch von „Krisen-Abnutzung“ sprechen.

Die Übertragung von der einen zur anderen Ebene scheint mir zum Einen aus methodischen Überlegungen richtig, dann aber auch aus persönlichem Erleben:

Im Laufe des Ukraine-Krieges folgte jetzt seit fast vier Jahren eine Krise auf die andere – und der Krieg dauert nun schon fast vier Jahre, ist also insofern vergleichbar mit dem 1. Weltkrieg. Jede der Krisen – ob nun auf Seiten der Ukraine, der Russlands oder der der Nato – erregt die Menschen, die daran Anteil nehmen, im Innersten. Eine Aufeinanderfolge solcher Krisen schafft also eine nervliche Dauerbelastung, die nach meinem eigenen Empfinden exponentiell anwächst, sich also immer mehr steigert. Die schwächer werdenden Nerven bzw. die abgestumpften Nerven werden weiter mit einem „Beschuss“ aus immer neuen Krisen „bombardiert“.

Ja, ich habe mich selbst bei dem Gedanken erwischt: Dass es doch endlich einer der Seiten gelingen möge, solch einen Sieg zu erringen, dass der Krieg zu Ende kommt, damit keine neuen Krisen mehr auf mich einprasseln. (Bezogen auf die multiplen Krisen vor dem Juli 1914 wenden manche Historiker ja das spätere Freudsche Wort vom „Unbehagen in der Kultur“ an, um damit die anfängliche, irrationale Kriegsbegeisterung zu erklären.)

So, wie ein technisches Teil durch Dauerbelastung spröde wird, stelle ich mir meine Nerven vor: sie werden schwächer und reagieren dann umso empfindlicher, sehnen sich aber auch nach Entspannung; oder sie stumpfen ab, da sie sonst den „Dauerbeschuss“ nicht aushielten.

Dies zu den Auswirkungen bei mir als Einzelperson.

Ich stelle die These auf, dass dies auch für Staaten als Ganzes gilt. Wie mag es den Politikern gehen, die dort von Ereignis zu Ereignis treiben und getrieben werden, die von Konferenz zu Konferenz hetzen und gehetzt werden. Die Ermattung Präsident Kennedys in der Kuba-Krise war auf allen Aufnahmen sichtbar!

(aus: W. Richter, Oberst a.D. der Bundeswehr, in der Zeitschrift Makroskop, das Magazin, Nr. 36(2025), online-Ausgabe vom 15.10.25)

Die Gedanken, die hier geäußert werden, führten mich zurück zu meiner Schilderung der Entstehung des „Peloponnesischen Krieges“ in meinem Roman „Archidamos“. Dem Kriege unmittelbar vorausgegangen waren drei Krisen: die um Megara, die um Epidamnos und Kerkyra, schließlich die um Poteidaia.

Im „Archidamos“ hatte ich in der Überschrift zu einem Kapitel die Ermattung durch Krisen so beschrieben: „ … der Friede im Zustand der Aushöhlung“. Ich führte damals in diesem Kapitel über die Menschen und Politiker in Korinth, Athen und Sparta aus:

Mental, in den Köpfen aber, wuchs die Ungeduld auf beiden Seiten, zuerst natürlich bei den Falken; sie empfanden es schon als lästig, dass ihre Stadt immer noch meinte versichern zu müssen, sich an den Vertrag halten zu wollen. Auch alle anderen, die bisher eher Unentschlossenen, die Uninteressierten, die noch nicht Betroffenen, wurden unduldsamer. Hier scheint mir eine Konstante des menschlichen Wesens vorzuliegen: Je mehr Krisen gerade noch einmal knapp entschärft worden sind, desto nervöser erwartet man die nächste Krise und ist bald schon so gereizt, dass man ein Ende dieser dauernd sich steigernden Anspannung ersehnt, selbst wenn dieses Ende dann den Einstieg in den Großen Krieg bedeutet, den man ursprünglich entsetzt abgelehnt hatte, weil man ja nicht zu den Falken gehörte.“

(G. Jankowiak: Archidamos. Der Krieg, der auch den Sieger verschlingt. Memoiren eines Königs von Sparta. Hamburg (Verlag Books on Demand) 2025, S. 126)

Dies mag genügen, um die Ermattung der Gemüter, die Aushöhlung des noch bestehenden formalen Friedens zu umschreiben.

Es bleibt die Frage, was gegen dieses Abrutschen in eine Art Schicksalsergebenheit hilft. Auch da bringt uns das oben zitierte Interview mit Oberst Richter ein Stück weiter. Richter fasst dieses unklare Schwanken zwischen Krieg und Frieden mit dem Begriff der „instabilen Konfrontation“ zusammen. Von dort aus weist er aus der geschichtlichen Erfahrung einen Weg aus der Krisenermattung:

(Die Stelle stammt aus demselben Interview wie oben: W. Richter, Oberst a.D. der Bundeswehr, in der Zeitschrift Makroskop, das Magazin, Nr. 36(2025), online-Ausgabe vom 15.10.25)

Aus all dem Gesagten folgt, dass wir inmitten der „instabilen Konfrontation“ zwischen Russland (mit China) und der Ukraine (mit der Nato) nur herauskommen durch „Dialog und Vertrauensbildung“. Verantwortungsvolle Politiker sollten diesen Weg wieder einschlagen. Denn aus der geschichtlichen Erfahrung sollten sie wissen: Ohne die Rückkehr zu den Instrumenten der Diplomatie werden sie selbst ab einem bestimmten Punkt zu Getriebenen im Prozess der Krisen-Ermattung, oder, mit den Worten aus dem „Archidamos“: im Prozess der mentalen Aushöhlung des Friedens.

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1Dieses Merkmal scheint momentan stärker zu werden, siehe u.a. die Vorfälle mit Drohnen. Ich hatte solche Eskalationen durch Zwischenfälle schon viel früher im Krieg erwartet (s. meine „Kommentare zum ukrainischen Krieg“, S. 19). Zwischenfälle gab es damals, man denke nur an die Sprengung der Nordstream-Pipelines; aber die Akteure reagierten entweder professionell oder ihre Interessen waren einer Eskalation gegenläufig. Mittlerweile scheint durch die Ermattung/Abnutzung der Nerven diese zwei Faktoren schwächer zu werden.