Albert Schweitzer – Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1954 (2.3.’23)


Der Nachbar hat scheinbar aus-/aufgeräumt und mir wieder einige Leckerbissen in den Briefkasten geworfen. Unter anderem etwas für diesen Blog:

Vor mir liegt die oben bezeichnete Rede von Albert Schweitzer. Einige der jüngeren Leser werden mit dem Namen nichts mehr anfangen können, eine Bekanntschaft lohnt aber.

In meiner frühen Schulzeit wurde Schweitzer uns als Held der Entwicklungsarbeit vorgehalten. Er war hauptsächlich Gründer und Leiter eines Hilfsprojektes in Lambarene.

Die Rede zeigt, dass Schweitzer sich aber neben der Nächstenliebe umfassend um humanes Dasein und geistige Zusammenhänge kümmerte. Hier geht es mir darum, die zukunftsweisenden Gedanken Schweitzers vorzustellen. Natürlich finden sich in der Rede und in der Tätigkeit Schweitzers auch stark zeitgebundene Aussagen, damals, vor 70 Jahren …

Was sind seine Hauptthesen und was kann er uns heute noch sagen?

Zuerst einmal Erstaunliches:

Schweitzer sieht nach beiden Weltkriegen keine praktikablen Friedenszustände, weder für die Besiegten noch für die Sieger. Ersteres halte ich für leicht einsehbar, letzteres verlangt Erklärung, denn: die Sieger haben doch gesiegtd, oder; sie haben doch bekommen, was sie erkämpften, oder; sie haben doch Länder besetzt …

Schweitzer erklärt:

  • der heutige Krieg wird mit solchen Mitteln der Vernichtung geführt, dass er für alle ein „Übel“ ist;
  • seit den Kriegen des 19. Jahrhunderts lässt sich eine Steigerung des Umfangs der Kriege, der Brutalität und der Vernichtung von Menschen feststellen, dass gleichsam gebieterisch – wie ein Imperativ – feststeht: es „darf nichts unversucht bleiben, ihn zu verhindern“ (S. 9). A-Vollmer
  • Der Mensch ist ein „Übermensch“ geworden (nein, Schweitzer meint dies nicht glorifizierend als „Herrenmensch“, sondern als ein Verhängnis): „Sein Übermenschentum besteht darin, daß er auf Grund seiner Errungenschaften des Wissens und Könnens nicht nur über die in seinem Körper gegebenen physischen Kräfte verfügt, sondern auch solchen, die in der Natur vorhanden sind, gebietet und sie in Dienst nehmen kann.“ Also das ist der Unterschied zwischen dem Urzeitmenschen mit der Schleuder und dem Jetzt-Menschen mit den ABC-Waffen. . „Der Übermensch leidet aber an einer verhängnisvollen geistigen Unvollkommenheit. Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf.“ (S.9f.)
  • „Was uns aber eigentlich zu Bewußtsein kommen sollte und schon lange zuvor hätte kommen sollen, ist dies, daß wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind.“

Man sieht also, dass lt. Schweitzer die gesamte Menschheit vor eine extrem gefährliche Situation gestellt ist. Meine erste Folgerung: Die Situation ist dabei für die historisch gewordene Ethik des Menschen so neu und daher so überfordernd, dass bisher kein Weg gefunden wurde der Selbst-Vernichtung zu entgehen.

Schweitzers Suche nach einer Lösung

Albert Schweitzer hofft, dass uns das durch einen „neuen Geist“ gelinge, mit Hilfe dessen wir „eine höhere Vernünftigkeit“ erreichen.(S. 11)

Schweitzer nennt im Folgenden grundsätzliche Denker zum Thema:

Erasmus von Rotterdam habe in seiner Querela Pacis eine „durch ethisches Wollen geleitete höhere Vernünftigkeit“ gefordert. Immanuel Kant, so sollte man denken, sei ihm als Philosoph auf diesem Kurs gefolgt. Aber Schweitzer konstatiert, dass Kant im „Zum ewigen Frieden“ eher juristisch argumentiert: Eine „internationale schiedsrichterliche Behörde (solle) in Streitfällen zwischen den Völkern“ entscheiden.

Kant habe bei diesem Gedanken zwei Vordenker gehabt: Sully, ein Minister des großen französischen Königs Heinrich IV, habe einen „Völkerbund mit schiedsrichterlichen Befugnissen“ beschrieben, welchen Gedanken dann gut 100 Jahre später der Abt Castel de Saint-Pierre in drei Schriften vertieft habe.

Exkurs meinerseits: Die lt. Schweitzer bedeutendste dieser Schriften des Abtes hatte den Titel „Projet de Paix perpetuelle entre les souverains Chrétiens“, übersetzt etwa: Vorschlag eines ewigen Friedens unter den christlichen Souveränen. —– Und heute haben wir die Situation, dass sich zwei Nationen, die sich (immer noch) christlich nennen, seit einem Jahr verbissen bekämpfen, während den anderen (christlichen) Nationen Europas unter Führung eines puritanischen außereuropäischen Landes vor und im Krieg nichts anderes einfällt, als einseitig den im Moment Unterlegenen mit Waffen zu unterstützen und den momentan noch Überlegenen totrüsten zu wollen.

Alles Aktionen innerhalb der Kriegslogik und der uralt eingewöhnten Freund-Feind-Denkweise mit Drohungen und Bestrafungen („Sanktionen“)!

In den übrigen Erdteilen sitzen bedeutende Nationen, die sich das kopfschüttelnd anschauen und nicht wollen, dass sie selbst wirtschaftlich dadurch leiden oder bei einem Atomkrieg der Europäer auch verseucht werden bzw, Opfer des Nuklearen Winters werden.

Zwischen diesen dürften sich viele islamistische Bewegungen über diese Selbstzerfleischung der Christen oder Möchtegernchristen freuen!

Aber zurück zu Schweitzer!

Er erinnert daran, dass die Welt von 1954 schon Erfahrungen mit internationalen Organisationen habe: dem Völkerbund und der UNO: Vermittlung bei entstehenden Konflikten, Initiative zu Beschlüssen, wichtige Maßnahmen für die Millionen von Staatenlosen nach beiden Weltkriegen.

Einen „Zustand des Friedens“(S. 13) könnten diese Institutionen aber nur schaffen, wenn es eine „auf die Verwirklichung des Friedens gehende Gesinnung“ gäbe. Ohne diese Gesinnung sei die bloße Organisation nicht voll wirksam. Eine Konzentration auf die Schaffung einer solchen Gesinnung, eines solchen Geistes, sei umso dringlicher, als wir heute nicht die lange Zeit mehr hätten, die Kant etwa veranschlagte.

Schweitzer begegnet dem Argument, der Geist sei zu schwach: nur im Geiste der Humanität sei der Mensch sich selbst „treu“, im Geist der Inhumanität seien „wir uns selber untreu und damit allem Irren ausgeliefert.“ (S. 14, Fettdruck von mir, G.J.) Dies mag als reiner Gedanke nicht beweiskräftig genug sein, deshalb erinnert Schweitzer an die Ideenbewegung der Aufklärung, die es im 17. und 18. Jahrhundert geschafft habe „dem Aberglauben, den Hexenprozessen, der Folter und so mancher überlieferten Grausamkeit und Torheit“ ein Ende zu setzen.

Dem „Geist“ fehle heute eine seinem „ethischen Wesen entsprechende, wissenschaftlich zu begründende Welterkenntnis“, ich verstehe Schweitzer so, dass wir stattdessen nur Naturwissenschaft hätten – mit all den unorganisierten, undemokratischen Wellen von Erfindungen ohne ein Gleichgewicht durch eine sich gleich schnell entwickelnde Ethik.

Der „Geist“ im Sinne von Schweitzer

Er begründet sich „aus dem eigentlichen Wesen des Menschen“, indem er die bisher bekannte Ethik durch eine „Ehrfurcht vor dem Leben“ ergänzt. Er illustriert diesen Gedanken durch das Beispiel deutschen Hochschullehrer, die die Vertreibung aus den Ostgebieten 1945 selbst miterlebt hätten, dennoch aber Zeugnis ablegten „Gutes empfangen (zu) haben“ von ihnen feindlichen Völkern, die eigentlich „in Haß gegen sie hätten verfahren“ müssen.

Schlimmstes Hindernis für eine solche Gesinnung sei der heute herrschende „üble Nationalismus“, der sogar jetzt (1954) die bisher kolonial bevormundeten Menschen ergreife.

„Wenn der Geist in uns mächtig wird und uns von der veräußerlichten Kultur zu der in der Humanitätsgesinnung gegebenen innerlichen (Kultur) zurückführt, wird er durch uns auch auf sie (die früheren kolonial Unterdrückten) wirken.“ (Zusätze von mir, G.J.)

Und direkt danach ein Satz, den auch ein Stoiker hätte so formulieren können:

„Alle Menschen, auch die primitiven und halbzivilisierten, tragen in ihrer Eigenschaft als mitempfindende Wesen die Fähigkeit zur Humanitätsgesinnung in sich.“ (S. 17f.)

Wir sollten den Krieg „aus dem ethischen Grunde, weil er uns der Unmenschlichkeit schuldig werden läßt, verwerfen.“

Chancen auf Realisierung?

Schweitzer ist sich bewusst, das das schwierig ist und er in den Einzelheiten nichts wesentlich Neues präsentiert hat. Aber den Gedanken, „daß der Geist in unserer Zeit ethische Gesinnung“ erzeugen kann, den habe er hervorgehoben. Und die Realisierung? „So manche Wahrheit ist lange oder ganz unwirksam geblieben, allein deshalb weil die Möglichkeit, daß sie Tatsache werden könnte, nicht in Betracht gezogen wurde.“

Im Ist-Zustand von 1954 bedrohten die einen die anderen Völker weiter, Waffen würden zur „Selbstverteidigung“ bereit gehalten. So weit die – modern gesprochene – Kriegslogik. In ersten Schritten einer Friedenslogik müssten Kriegstaten wiedergutgemacht werden, alle Individuen, die weiter an Kriegsfolgen litten, müssten Wiedergutmachung erfahren. So entstünde „Vertrauen“, mit diesem könnten Probleme gelöst werden.

(Mir kommt hier spontan die Versöhnungsbotschaft der polnischen Bischöfe an ihre westdeutschen Amtsbrüder in den Sinn, die ja auch Vergebung anbieten und Vergebung erbitten, mit dem Ziel, dass Vertrauen wachse. Hier zeigt sich m.E. der Geist, den Schweitzer meinte.(Siehe meinen Blog-Artikel: Versöhnung trotz schlimmster Verbrechen)

„Mögen sie (Politiker und Völker) in dem Bemühen um die Erhaltung des Friedens miteinander bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehen, daß dem Geiste zum Erstarken und zum Wirken Zeit gegeben bleibe!“(Seite 20, letzter Satz)

Mein Fazit und mein Ausblick

Schweitzers Ansatz ist einer der klassischen Geisteswissenschaften. Von heute aus wirkt vieles abgehoben und vielleicht unrealistisch. Man merkt hier, wie viele Jahrzehnte seitdem die sozialwissenschaftliche Denkweise uns die materiellen Bedingungen unserer (geistigen) Existenz klar nachgewiesen hat.

Innerhalb dieser geisteswissenschaftlichen Grenzen aber sollten wir die Grundeinsichten Schweitzers gerade heute ernst nehmen. Zuerst vielleicht die Gedanken, die hier im letzten Zitat stecken:

  • zur Friedenserhaltung „bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehen“
  • damit so noch dem Geist Zeit gegeben werde, (da wir nicht mehr viel Zeit haben).

Ähnlich idealistisch hatte übrigens auch schon Generaloberst Beck 1944 seine wohl vorletzte Denkschrift beendet: „Die Überwindung der Lehre vom totalen Krieg als einem unentrinnbaren Faktum setzt also letztlich einen neuen sittlichen Idealismus voraus. Nur Idealismus vermag auch, den Glauben an eine Idee als Aufgabe zu wecken und stark zu erhalten und, sollte das Ziel auch nie vollständig erreicht werden, wie dies vom ewigen Frieden angenommen werden muß, es doch zu ermöglichen, ihm in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung immer näher zu kommen.“

(Ähnlich hatte sich Kant im Schlussabsatz von „Zum ewigen Frieden“ geäußert.)

Das Zitat ist entnommen aus L. Beck: Studien. Hrsg. u. Eingeleitet von H. Speidel. Stuttgart 1955, S. 258. Zu Beck findet man im Blog meinen Artikel: Beispiele für Gegen-Experten, seit 1933,) Teil II

  1. Wir haben nicht mehr viel Zeit, denn jetzt bedroht uns der Krieg mit ABC-WAFFEN und es bedroht uns die selbstgeschaffene KLIMAVERÄNDERUNG. In dem einen Fall bedrohen uns die der Natur abgerungenen Kräfte (wie ja auch Schweitzer sagte), in dem anderen, neuen Fall bedroht uns die von uns ausgebeutete Natur. Beides sind extrem elementare Kräfte und Vorgänge, denen der Mensch dann klein und hilflos gegenüber stehen dürfte.
  2. Es beschämt mich als Europäer, dass auch der jetzige Krieg wieder in Europa von Europäern (und US-Amerikanern) geführt wird, wie auch schon der Kosovo-Krieg 1999. Wie kann es sein, dass in Mittel- und Südamerika schon seit Dezennien kein Land mehr gegen ein anderes Krieg führt? Wie viel „friedlicher“ ist selbst Afrika, wenn man es mit Fläche, Staatenanzahl und Bevölkerung in Relation zu Europa setzt – un das trotz der künstlichen kolonialen Grenzen!!! Woher kommt die Idee der Wahrheitskommissionen, die ja voraussetzt, dass nach Gewalt alle verhandeln und alle Fehler gemacht haben? Welche anderen Kräfte sind hier auf diesem kleinsten, verwundbarsten Kontinent immer wieder am Werk? (Die anderen NATO-Kriege nach dem Kosovo spielten sich in Asien/Nordafrika ab, passen also insofern nicht zum jetzigen und zum Kosovo-Krieg.————————–
  3. ———————
    Autor dieses Artikels ist:
  4. G. Jankowiak
  5. Sodinger Str. 60
  6. 44623 Herne