Primäre und sekundäre Faktoren im Verhältnis der Staaten
Immer wieder komme ich beim Nachdenken über den jetzigen Ukrainekrieg zu der schwierigen Entscheidung:
- hat die Ukraine Recht, wenn sie fordert, dass man sein Bündnis in Freiheit wählen kann;
- hat Russland Recht, wenn es fordert, dass das Bündnis, dem die Ukraine beitreten will, zu nah an seinem Gebiet eine Gefahr darstellt, also die Sicherheit gefährdet.
Eine Antwort auf diese Frage hat fundamentale Bedeutung für die Gestaltung des Friedensschlusses, ja selbst für den Kurs, den man jetzt im Krieg schon ansteuern müsste, um zu einem Friedensschluss zu kommen.
Von da aus komme ich gedanklich zu den Werten, die das Verhältnis der internationale Staatenwelt prägen sollten. Und da finde ich wieder die oben genannten Begriffe, Sicherheit versus Freiheit. So wird ja seitens der NATO-Staaten immer wieder betont, dass Werte wie Freiheit, Demokratie (= politische Wahl-Freiheit), Diversität (Wahl-Freiheit bei privaten Lebenseinstellungen) ihren Kurs bestimmen.
Meiner Ansicht nach müsste man diesen „Freiheiten“ noch die Freiheit der Wirtschaft hinzufügen. Mit dieser jedoch ist die „Freiheit“ der Versorgung dieser Wirtschaft mit Rohstoffen verbunden, also auch die „Freiheit“ der NATO ihre (Wirtschafts-)Interessen überall auf der Welt ge-sichert zu sehen, und dafür auch militärisch intervenieren zu dürfen. Beweis hierfür ist die Argumentation der deutschen Regierung für ihr Engagement gegen China: man müsse den Handelsweg zwischen China (Festland) und Taiwan „sichern“. Auch der Rücktritt des früheren Bundespräsidenten Köhler gehört hier hin; er hatte das Recht auf (militärische) Sicherung der Wirtschafts-Interessen gefordert und wurde (damals) deswegen zum Rücktritt gedrängt.
Mir scheint damit klar bewiesen zu sein, dass es beim „Westen“ neben den zunächst einmal ideellen Werten wie Freiheit, Demokratie, Diversität etc. auch um materielle „Werte“ geht.
Exkurs: Die Entwicklung der Werte
(wen nur die Außenpolitik interessiert, der lese unten weiter)
Um es noch auf andere Weise zu beleuchten: Der „Westen“ beruft sich ja öffentlich oft auf die Erklärung der Menschenrechte von 1948, stellt aber aus dieser besonders die Freiheiten heraus. Jeder von uns weiß aber spätestens seit „Liberté, egalité, fraternité“ (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – 1789), dass der (politischen) „Freiheit/liberté“ die sozialen Werte von „Gleichheit/égalité“ und „Brüderlichkeit/fraternité“ gegenüberstehen. Soziale Werte aber zielen eher auf die Sicherheit der Existenz, ja, zur Sicherheit der Existenz aller dürfte die „Freiheit“ des Individuums eingeschränkt werden. Unter der Freiheit des Individuums verstand man 1789 besonders die Freiheit des wirtschaftlich tätigen Bürgers – also eines Individuums der Mittelschicht. Heute ist dieser Begriff eher auf die Lebensgestaltung des Individuums ausgedehnt worden. Die alte Bedeutung als Freiheit des Unternehmers ist aber immer noch präsent, vielleicht sogar dominant, wie die Existenz und die Politik der FDP beweist.
Aber zurück zur Außenpolitik! Ich war ja auf der Suche nach Orientierung im Werte-Durcheinander!
Bei einem der Klassiker politischen Denkens, bei Raymond Aron, finde ich folgende Stelle. Zum Verständnis der Stelle muss man wissen, dass die einleitenden Zeilen von Aron selbst stammen, der dann innerhalb der folgenden Zeilen den Altmeister Clausewitz zitiert. Ich habe das gesamte Zitat durch doppelte Anführungsstriche gekennzeichnet, das Clausewitz-Zitat mit einfachen Anführungsstrichen, so, wie es üblich ist.
„Was den Gegensatz zwischen den politischen Prinzipien angeht, zwischen dem sogenannten Liberalismus des Westens und dem sogenannten Despotismus des Ostens, so ist das nur eine Glaubenssache, die man im Geist von den Verhältnissen, die die äußere Sicherheit der Staaten bedingt, trennen muß. (Bis hier also Aron, ab jetzt Clausewitz)
‚ Wenn politische und religiöse Grundsätze und Meinungen auch gewöhnlich mit den materiellen Interessen und der äußeren Sicherheit in Verbindung treten, so können sie doch niemals als stellvertretend1 für diese gebraucht werden. Gesetzt, der sogenannte Despotismus wäre ganz verschwunden, alle Völker so frei und glücklich wie Paris jetzt ist und Dresden noch vor wenigen Monaten war, würde darum überall zwischen den Völkern ein idyllisches Friedensverhältnis walten und der Streit der Interessen und Leidenschaften schweigen, welcher die äußere Sicherheit der Völker stets bedroht? Natürlich nicht. Wir können also die Gegensätze der Völker nicht in Maximen2 suchen, sondern in der ganzen Summe ihrer geistigen und materiellen Verhältnisse zu einander, und darüber ist es wohl ratsam die Geschichte zu befragen.’“
(Aus: Aron, Raymond: Clausewitz. Den Krieg denken. Propyläen-Verlag 1980, S. 73f.)
Clausewitz schrieb dies in einem der zwei3 seiner Artikel von 1831, also kurz nach der Pariser Revolution von 1830 und den Ereignissen in Dresden vom September 1930. In beiden Beispielen hatten sich wahre Freiheitsfeiern abgespielt. Darauf spielt Clausewitz wohl eher ironisch an mit „frei und glücklich“. Auch ironisch dürfte die Wortwahl bei „idyllisches Friedensverhältnis“ sein. Hier dürfte er sachlich anspielen auf: die Solidaritätsadressen aus den revolutionären Gegenden Deutschlands nach Frankreich, ähnlich solchen Vorgängen wie 1789-1794. Clausewitz „outet“ sich damit zu dieser Zeit eher als Anhänger des „Friedhofs-Friedens“ a la Metternich; aus seinen sonstigen Schriften, insbesondere den „Umtrieben“, wird aber deutlich, dass er die tiefen ökonomischen und sozialen Ursachen der damaligen Revolutionen klar versteht, etwa so wie später Toqueville. Er schreibt wohl deswegen ironisch, weil er selbst nicht daran glaubt, dass selbst demokratischere Staaten mit vielen „Freiheiten“ friedvoller wären, weil eben die Interessengegensätze zwischen Staaten allgemein („ … der Streit der Interessen und Leidenschaften …, welcher die äußere Sicherheit der Völker stets bedroht …“) damit nicht aufgehoben wären.
Damit sind wir auch mitten in der Bedeutung der beiden Begriffe von Freiheit und Sicherheit heute: Sicherheit als alleiniger Pol in diesem Spannungsfeld würde zu einem Völkergefängnis führen, wo selbst schreiende Ungerechtigkeiten, etwa der Grenzziehung, nicht verändert werden dürften, weil ja damit das eingeübte Verhältnis der Staaten dynamisiert würde: Bei jeder Veränderung wären so und so viele Anrainer in ihren „Interessen“ bedroht und würden sich einmischen. Freiheit allein auf der anderen Seite könnte dazu führen, dass jedweder Stamm und Clan sich für unabhängig erklären würde, was garantiert zu einem nicht enden wollenden Kriegszustand führen würde, also auch zu globaler Un-Sicherheit.
Das sinnvollste Verhältnis zwischen beiden Polen von Sicherheit und Freiheit in dem beschriebenen Spannungsfeld dürfte irgendwo in der Mitte liegen. Ein Erreichen eines sicheren und freien Friedens ist somit eine kreative Aufgabe höchsten Maßes, das hohe Kompromissbereitschaft aller verlangen würde. Es würde ähnlich viel Energie und auch Kraft (Geld, Ressourcen) kosten, wie jetzt für die Kriegs-Führung verbraucht wird! Es wäre also echte „Friedens-Führung“.
Die Belohnung dafür wäre aber ein auf einer gewissen Sicherheit UND einer gewissen Freiheit aufgebauter Zustand, der bestimmt dauerhafter und weniger gefährlich wäre als ein Kriegsende, das nur einen der beiden Kontrahenten sicher oder frei machen würde.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meine Bemerkungen im Artikel zu „Verantwortungs- und Gesinnungsethik“
1Ich verstehe das so, dass diese ideellen (weichen) Werte nicht den Platz der dann genannten „harten“ Werte einnehmen können, diese also vom primären Platz auf den sekundären verdrängen dürfen.
2Gemeint mit „Maximen“ sind etwa philosophische Lehrsätze oder Ideen
3Aron selbst gibt nicht an, aus welchem der beiden Artikel das Zitat stammt.