Die Lese- Erlebnisse des Jungen
Der Junge saugte sich mit seinen Augen am vergilbten Papier des schmutzigen Buches fest; aufhören weiter zu saugen und zu lesen konnte er nicht.
Es war wohl so gegen Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, der Junge war vielleicht 12 Jahre alt, das Buch stammte schon damals aus einer anderen Zeit, es waren
„die Deutschen Heldensagen“.
Der Junge war mit Gunther, Giselher, Hagen und den anderen im Saal König Etzels. Seit Stunden stürmten dessen Krieger, diese unholdmäßigen, schlitzäugigen Kreaturen, die es wohl in un begrenzter Zahl gab, auf die wenigen Nibelungen ein. Diese wateten mittlerweile in einem Meer von Blut, deren und ihr eigenes und das der „Kameraden“. Ja, die letzten der Nibelungen hatten mit angesehen, wie einer nach dem anderen ihres Blutes dahinsank, nachdem, von Tausend Wunden aus der Hand der Etzel-Krieger blutend, die Kameraden ihren Opfergang beendet hatten.
Und immer, wenn einer der Ihren „fiel“, brüllten die anderen, selbst schon zu Tode blutend, wild auf und sie schlugen mit noch Mal – ein letztes Mal – aufwallender Kraft auf das Menschenfleischgetümmel vor ihnen ein.
So viele von denen wie möglich mitnehmen …
Cortes und die Azteken
Dem Jungen fiel auch „Hernan Cortes“ in die Hände. Auch dort schlachteten die Herrenmenschen ganze Hekatomben von Steinzeit-Azteken ab, der Junge sah deren von Fett glänzende Haut aufplatzen unter den Eisen-Waffen der Spanier, es quoll aus ihnen heraus …
Ja, diese Seite seiner Phantasie beflügelten diese Geschichten; aber zum letzten „Thrill“ fehlte der eigene Opfergang bei diesen Spaniern, sie gewannen ja.
Die Thermopylen (in der Deutung des deutschnationalen Joachim Fernau in „Rosen für Apoll“)
Die 300 Spartiaten blicken voller Verachtung auf die unter ihnen wimmelnde Menschenmasse. Sie als „Herren“ lassen sich auch durch das Wissen um den eigenen Untergang nicht dazu demütigen dem Kampf auszuweichen und irgendwelche Auswege zu suchen.
Die Landser-Hefte
So vorprogrammiert, faszinierten ihn natürlich auch die „Landser-Hefte“, besonders diejenigen, in denen ein deutscher Held Unmengen von „Russen“ tötete, bevor er – mehrfach verwundet – selbst von diesen getötet wurde.
Die Film-Erlebnisse des Erwachsenen
Hitler, die Nazi-Führung, deren Bunker in Berlin
Der Junge war schon längst erwachsen, hatte studiert und sich rational mit Krieg, Gewalt und Tod auseinandergesetzt. Aber die alten Instinkte aus der Kinder-und Jugendzeit schnappten sofort zu, wenn er etwas wahrnahm, was dem Opfergang-Sagenkreis entsprang.
So „Der Untergang“, der mit Bruno Gans in der Rolle des Hitler. Die Szene, in der die Nazi-Größen Hitler 1945 im Bunker der Reichskanzlei zum Geburtstag gratulieren. Der schmierige Himmler pirscht sich an ihn heran – „Mein Führer“ – und er schlägt seinem Führer eine Fühlungnahme mit den WEST-Alliierten vor. Und dann Hitler: „Ich mache keine Politik mehr.“
Der einzelne Satz drückte genau auf des Jungen Instinkte: da will einer nicht mehr manövrieren, ausweichen, be-denk-en – da ist jemand, der eine Lust empfindet daran, alle (irgendwie menschlichen) Bedenken aus-zu-schlagen, der den Untergang will, und zwar seinen und den der Welt um ihn herum.
Noch mal der „Untergang“: Hitler träumt in einer anderen Szene vom Erfolg einer letzten Offensive – so wie ja die Nibelungen in einen „letzten“ Kampf gingen, geführt von Hagen, der ja weiß, wieso sie alle in dieser Selbstmord-Situation sind. Und Hitler schreit mit krampfhaft sich krümmenden Händen, vielleicht in Extase: „Sie sollen ersaufen in ihrem eigenen Bluet!“ (Kein Tippfehler, der österreichische Unterton kommt hier voll durch, Bluet statt Blut).
U-Boot Film „Morgenrot“ (Uraufführung am 31.1.1933!!!!! in Essen in der Schauburg)
Das Boot ist schwer beschädigt und liegt auf dem Meeresgrund, kann nicht mehr auftauchen. Jeder weiß, was das normalerweise bedeutet: langsames Ersticken.
Die „Kameraden“ sind versammelt, viele verzweifelt, andere völlig passiv. Da beginnt der Kommandant eine Durchhalte-Rede, die gipfelt in:
„Zu leben verstehen wir Deutsche vielleicht schlecht, aber sterben können wir jedenfalls fabelhaft.“
Reiner kann man den Gedanken des Opfergangs kaum aussprechen: Mein Volk ist nur dann etwas Besonderes, wenn es unter hohen Opfern eine große historische Leistung vollbringt. Wenn „nichts los ist“, wird das Volk dekadent und verdient nicht geachtet zu werden. Leben ist Kampf!
Abgesehen vom historischen Hintergrund und der wiederholten Herabwürdigung der Opfer der Sowjetunion beim Kampf gegen die Nazis: erfüllen die in Russland praktizierten „Märsche der Überlebenden“ und die dauernde Erinnerung an die 27 Millionen Opfer des Nazi-Krieges unter der jetzigen Herrschaft auch die Funktion, die Nation/das Volk auf erneute Opfer auch in den Dimensionen eines Atomkrieges vorzubereiten und:
jegliches kritisches Nachdenken über die stalinistischen Fehler der Jahre 1939-1941 abzuwürgen. Letzteres ist dann auch der Vorwand alle zum Schweigen zu bringen, die heute darüber nachdenken, ob der Kurs ihrer jetzigen Regierung richtig ist – so Memorial und dessen bekanntesten Historiker Juri Dmitriew. Der russische Präsident benutzt da gern das Wort des „Verräters“ – und man weiß ja, wie man mit Verrätern umgeht, oder?
Quid ad nos – Was soll uns (all) das bedeuten?
- Rück-sichts-los-igkeit
Zuerst einmal: alle Personen aus den Beispielen waren „rück-sichts-los“. Sie opferten die „Feinde“ und sich selbst, ohne weiter an Alternativen zu denken oder über die Gründe nach-zu-denken, die zu ihrer jeweiligen Opfergangs-Situation geführt hatten.
In der jetzigen Konflikt-Situation (ja, Konflikt, denn zwischen RU und NATO ist es ja noch kein Krieg) sehe ich auf beiden Seiten eine immer mehr sich steigernde Haltung, Alternativen oder Gedanken an die mögliche eigene Vernichtung „aus dem Wind zu schlagen“ und den einmal eingeschlagenen Kurs rück-sichts-los weiterzuverfolgen. Das sich immer mehr steigernde Moment wächst mit jeder Aktion des „Feindes“ und der natürlich un-nach-giebig-en Haltung des eigenen Lagers.
Ich stelle mir schon vor, wie nach dem ersten (abschreckend gedachten) Atomwaffeneinsatz Putins Stoltenberg vor die Presse tritt und – gerade jetzt – die unbedingte Geschlossenheit des Bündnisses verkündet und: neue Waffenlieferungen, neue Mitgliedschaften, neue Sanktionen und – einen ersten eigenen NATO-Angriff, vielleicht auf eine Pipeline nach China im menschenleeren Sibirien, noch mit konventionellem Sprengkopf, da man ja nicht solche ein Barbar ist wie Putin.
2. Lust an der eigenen Pose
Die noch kämpfenden Nibelungen wurden im Weiterkämpfen bestärkt durch
- ihre noch kämpfenden Kameraden, und besonders durch:
- die gerade wieder neu „gefallenen“ Kameraden.
Bei jedem Tod eines ihrer wenigen noch kämpfenden Mitstreiter wächst die Erbitterung der noch Kämpfenden, bei jedem in sich selbst, aber auch mit kurzem Blick auf die noch lebenden eigenen Leute. Denen gegenüber kann man nicht anders als opferbereit und „trutzig“ weiterzukämpfen. Selbstachtung und Fremdachtung verlangen das.
So erlebt man da im Bundestag beim 100 Milliarden-Beschluss eine Atmosphäre des feierlichen Schulterschlusses, in der eigentlich niemand mehr den Mut hat sitzen zu bleiben, während sich alle Übrigen in den heute so beliebten „standing ovations“ feiern – sich gegenseitig feiern, und gar nicht merken, dass sie – psychologisch – dasselbe veranstalten wie der Reichstag am 4.8.1914.
Ruhm, wirklicher Ruhm, sollte statt dessen denjenigen gelten, die in solchen Situationen sitzen blieben; 1914 war es Karl Liebknecht. (Das mit dem „Ruhm“ fällt mir ein, weil es gerade jetzt aus dem Raum östlich von uns oft hinübertönt: Slava Ukraini – Slava Rossii – Slava Polski; ich hoffe ich habe die Genitive richtig gebildet).
Auch bei den vielen NATO-Treffen kommt es medial hauptsächlich darauf an, die „rücksichtslose“ Geschlossenheit zu demonstrieren; und wenn das bei dem einen Treffen gut geklappt hat, muss man beim nächsten Treffen sich und den anderen durch noch aggressivere Beschlüsse beweisen, dass die „rücksichtslose“ Haltung beim letzten Treffen auch wirklich echt war, und dass man angesichts der eskalierenden Provokationen des Feindes rück-sichts-los weiter zusammenhält.
Da erinnert dann auch – wie bei den Nibelungen mit ihrem eigentlich schuldigen Hagen – niemand mehr an die Entstehung (Genese!) des ganzen Malheurs
3. Die eingeschränkte Wahrnehmung (Perzeption) aller Faktoren in und außer sich selbst
Diejenigen, die in einer solchen Situation des Opfergangs als Kämpfende sind, muss man sich als Menschen vorstellen, von denen nur noch die Instinkte des angegriffenen (Raub-)Tieres übrig sind.
Ich differenziere extra nach Raubtier und Tier, denn die Verteidiger von Brest-Litowsk 1941 oder die von Arkadi auf Kreta beim Aufstand gegen die osmanische Herrschaft waren ja Verteidigende, keine Räuber.
In der heutigen Situation dürfte ein Beispiel für die Kämpfenden die ukrainischen Kämpfer (nicht: Soldaten) im Azow-Stahlwerk in Mariupol sein. Als ihr Sprecher fungiert in den hiesigen öffentlich-rechtlichen Medien ein Kommandant des Azow-Regiments, also einer Einheit, die zu großen Teilen aus ausländischen Söldnern besteht, und die bis zum jetzigen Krieg offen Nazi-Symbole zeigte.
Diese verbinden also in sich das Raub-Tier, den Kämpfer um das Erlebnis des Kampfes willen und die Ausgeschlossenheit, d.h. sie stehen abseits von vielleicht noch sonst geltenden soldatischen Regeln.
Das Kämpfer sein um des Kampfes willen kann man sich gut vorstellen bei Ernst Jüngers Roman: In Stahlgewittern. Dort lernt man auf gut 300 Seiten: Es scheint Menschen zu geben, die sich gern in lebensbedrohliche Situationen bringen, ja, die in solchen Situationen erst richtig aufleben, wenn das Adrenalin strömt.
4. Die teuflische Lust an der eigenen Macht über Viele/Alle
Im Film „Der Untergang“ sehe ich bei den Blut-Phantasien Hitlers bei diesem selbst eine gewisse Lust darüber, dass er solche Opferfeste und Blutrauschorgien verordnen kann. Hierzu passen ja auch seine NERO-Befehle: die Infrastruktur des EIGENEN Landes sei zu zerstören, damit sie „dem Feind“ nicht in die Hände falle. Und das eigene Volk, das dann in einem so zerstörten Land nicht mehr über-leben kann??? Hitler meinte, „sein“ Volk habe sich als das schwächere erwiesen, es brauche also auch nicht überleben. ———- Das ist übrigens die Perversion des Opfergang-Gedankens: In den bisherigen Beispielen gingen diejenigen den Opfergang, die sich für die Besseren hielten, während die anderen, die „Feinde“ einfach nur zahlreich waren; bei Hitler haben sich nun die früheren Herrenmenschen als nicht so herrisch erwiesen, also können sie unter-gehen. Hitler verlangte ja eigentlich von jedem Einzelnen/jeder Einzelnen sich, auch ohne Waffen, notfalls mit den Zähnen in einen „Feind“ zu verbeißen und sich so zu opfern – den Opfergang zu gehen.
Wem fallen da nicht die Worthülsen ein:
- Bis zum letzten Mann
- Bis zum letzten Blutstropfen
Auf alle Fälle halte ich einige der jetzt Führenden fähig, sich an ihrer eigenen Macht zu berauschen. Früher, also vor Atom, konnte ein Herrscher das, indem er Paraden abnahm oder der Beschießung einer Stadt oder Stellung „beiwohnte“ – eine vergleichsweise geringe Befriedigung, verglichen mit der heutigen Möglichkeit GOTT zu spielen. Ja, GOTT, denn der hat ja im Alten Testament ganze Städte „vertilgt“ und ja auch die Sintflut losgelassen.
Und heute könnte ein Mensch dasselbe erreichen. Man muss da zwangsläufig an die römischen Triumphzüge zurück-denken, bei denen die Römer selbst es ja mit Blick auf die Psychologie des Triumphators für nötig hielten, den Sklaven hinter dem Triumphator diesem immer wieder zuflüstern zu lassen: mortalem te esse memento – Denk‘ daran, dass du sterblich bist. (Also kein Gott – ach ja, wer hat den letzten Triumphzug veranstaltet? USA mit Quadratschädel Norman Schwarzkopf!!!)
Und wer flüstert das mit der sterblichen Natur dem Präsidenten in Russland zu?
Er hat sich doch in den vergangenen 23 Jahren lückenlos mit den eigenen Kreaturen umgeben, die ihm – gerade auch angesichts der „Sanktionen“ ihrer Feinde aus der NATO – auf „Gedeih und Verderben“ „schicksalsverbunden“ sind. Hängt es nicht von ihm allein, Putin, ab, dass das russische Volk nicht zu Sklaven des Westens wird??? Muss Putin nicht so denken? Muss er nicht die Sache zu Ende bringen, da nach ihm nur noch Epigonen kommen – er ist schließlich knapp 70 …
(Sie sehen, ich beherrsche das Vokabular der Opfergangs-Ideologie)
Fazit:
Eine Friedens-Führung muss mit einkalkulieren, dass es uralte (atavistische) Triebe im Menschen gibt, die dem Leben entgegen stehen. Eine „Lust an der Selbstzerstörung“, also das perverse Gegenteil des Selbsterhaltungstriebes – heute die finale Kontraproduktivität.
Früher erstreckte sich diese Kontraproduktivität bis auf ganz wenige Beispiele meist auf eine Gruppe aus einem Stamm oder einer Nation. Man sprach dann zwar vom „Kampf bis zum letzten Mann“, gemeint war aber der „letzte Mann“ dieser Gruppe. Die Gruppe konnte dann den Überlebenden des Stammes/der Nation als Beispiel dienen für Widerstand. Die Überlebenden, besonders die Kinder, hatten die
Chance des Lebens.
Also die Chance
- aus der Vergangenheit zu lernen,
- sich aus der Knechtschaft zu befreien (die Russen damals aus der der Mongolen, die Polen aus der der Teilungsmächte und später der der Nazis und der Sowjets, die Griechen aus der der Osmanen usw. usw.)
- oder sogar, sich zu assimilieren und (manchmal sogar) den siegreichen Gegner stark zu beeinflussen (wie die antiken Griechen die Römer – „Graecia capta feros victores cepit et artes intulit agresti Latio“).
Die hier geschilderte Ideologie des Opferganges passte höchstens noch zu Zeiten, in denen Vernichtung punktuell war. Insofern war sie bei manchen der gezeigten Beispiele legitim, also bei den Beispielen, wo Leuten sich verteidigten,.
Aber auch damals schon war sie geeignet in der Folge ganze Generationen von Jugendlichen zu verführen, oft durch eine Führung, die aggressiv war.
Eine Ethik des Atomwaffen-Zeitalters muss all das neu überdenken, denn hier wäre die Vernichtung nicht mehr punktuell.
Autor dieses Artikels ist:
G. Jankowiak
Sodinger Str. 60
44623 Herne