Zum Thema der Perzeption – Die Deutschen aus russischer Sicht
Im Briefing der „Neuen Züricher Zeitung“ (NZZ) vom 14.6.’23 steht zu lesen:
Das ist passiert: Der Kreml stellt das Gedenken an den sowjetischen Sieg in der Schlacht von Stalingrad vor 80 Jahren in den Zusammenhang mit der «Spezialoperation» in der Ukraine. Eine moderne Version des «Nazismus» bedrohe erneut die Existenz Russlands, sagt Wladimir Putin bei einer Gedenkveranstaltung. Wieder gehe die Gefahr vom Verbund europäischer Nationen aus und wieder seien es deutsche Panzer «mit ihren Kreuzen», die Russland bedrohten, so der russische Präsident. Zum Bericht |
Darum ist es wichtig: In Reaktion auf die Entscheidung von Nato-Staaten, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, hat der russische Versuch, aus der «Spezialoperation» einen «vaterländischen Krieg» zu machen, einen neuen Höhepunkt erreicht. Die – propagandistisch geschickt genutzte – Empörung richtet sich vor allem gegen Deutschland, und sie kennt im Fernsehen und in offiziösen Zeitungen kein Halten. |
Heute beim Lesen dieser Meldung der Neuen Züricher Zeitung erinnerte ich mich an gelesene Passagen aus verschiedenen Büchern. Und ich merkte, dass Putins Propaganda auf sehr aufnahmebereite Einstellungen (Mentalitäten) bei vielen RussInnen fallen dürfte.
Ich möchte Ihnen im Folgenden anhand von zwei Beispielen demonstrieren, welche Mentalitäten da existieren könnten.
Ich schreibe dies nicht, um etwa die jetzige Propaganda in Russland zu verharmlosen, oder um zu empfehlen, alles zu unterlassen aus Rücksicht auf die „russische Seele“. Nein, es geht darum, dass man bei der Friedens-Führung genau so wie bei der Kriegs-Führung den Gegenspieler genau kennen muss. Wenn nicht, wird man von dessen Reaktionen überrascht, was meist sehr unangenehm ist.
Zu einer vollständigen Perzeption der Mentalitäten in Russland würde auf der anderen Seite das Wissen um die gewisse Bewunderung Deutschlands von Seiten Russlands gehören. Man denke nur an Stalins Ausspruch: „Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt.“ Man war eben spätestens seit Zar Peter I. hin und her gerissen zwischen Westorientierung und der Orientierung an den eigenen Wurzeln, zwischen dem „westlichen“ St. Petersburg und dem slawischen Moskau.
Ähnliches zeigen ja die USA auch, sie schwanken zwischen globalem Engagement (im Moment: Biden) und Isolationismus, also der Konzentration auf ihre Insellage(vorher: Trump).
Nun aber die Beispiele für negative Prägungen der Russen gegenüber Deutschen:
Aus dem frühen 20. Jahrhundert, hier im Jahre 1916, eine Momentaufnahme vom Zarenhof aus der Feder eines wirklich bedeutenden Russlandkenners. Es ist vielleicht hier nicht bekannt, welche Verdachtsmomente fast alle Russen, die nicht blind zarentreu waren, hegten:
„Viel von der allgemeinen Hysterie richtete sich gegen den (Zaren)Hof, wo man eine deutschfreundliche Clique um die Zarin weithin in Verdacht hatte, sie schmiede ein Komplott, um Rußlands Niederlage herbeizuführen. Die Vorstellung von Verrat an höchster Stelle, die mit der Mjassojedow-Affäre1 und dem Großen Rückzug2 aufgekommen war, gewann 1916 an Stoßkraft, als sich das Gerücht von der Existenz eines ’schwarzen Blocks‘ bei Hofe verbreitete, von dem behauptet wurde, er strebe einen Separatfrieden mit Berlin an. Die wachsende Dominanz der Zarin (‚die Deutsche‘), die Antikriegs-Gefühle Rasputins, die große Zahl deutscher Namen bei Hofe und die Tatsache, dass Stürmer3 durch den Zaren gleichsam in den Rang eines ‚Diktators‘ befördert wurde (im Juni hatte er die Zuständigkeiten des Premierministers, des Innenministers, des Außenministers und des Obersten Verteidigungsministers übernommen) – all das schürte noch die Spekulationen. Weit verbreitet war die Behauptung, die Zarin und Rasputin arbeiteten für die Deutschen, sie hätten eine direkten Draht nach Berlin, und Nikolai warne regelmäßig seinen Cousin, Kaiser Wilhelm, vor den Bewegungen seiner Truppen. Solche Gerüchte wurden, bis sie schließlich die Front erreichten, noch weiter ausgestaltet. Betrachtet man ihre Briefe, so waren die demoralisierten Soldaten bereit zu glauben, Stürmer sei von den Deutschen bezahlt, um die Bauern verhungern zu lassen, und Graf Fredericks, der kaiserliche Hofminister, habe zugestimmt, die Westhälfte Rußlands an den Feind zu verkaufen.“
(aus: Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russichen Revolution 1891-1924. München 2001, S. 308) Die Fußnoten hat das Programm ganz an das Ende des ARtikels gerückt.
Und weiter zurück in der Geschichte, ins Jahr 1812, im Spiegel eines russischen Klassikers: Krieg und Frieden, von Lew Tolstoj. In der ersten Szene charakterisiert Fürst Andrej kurz vor der Schlacht von Borodino die Eigenart der Deutschen am Beispiel der Ratschläge des bisherigen russischen Oberbefehlshabers Barclay de Tolly. WEr sich über den Namen wundert: Barclay entstammt lt. Wikipedia einer deutschsprachigen baltisch-lettischen Familie mit Ursprüngen in Schottland. Nach ihm kam der wohl eher bekannte Russe Kutusow als Oberbefehlshaber:
„Er (Barclay) dachte ja nicht an Verrat, im Gegenteil, er gab sich Mühe, alles so gut wie möglich zu machen. Er dachte über alles genau nach, aber gerade deshalb taugt er ja nichts. Er taugt jetzt eben deshalb nichts, weil er über alles so gründlich und akkurat nachdenkt, wie es sich für diese Deutschen nun einmal gehört. (…) Er ist ein ehrlicher und überaus akkurater Deutscher …“
aus: Tolstoj, Lew: Krieg und Frieden. Zweiter Band. Berlin (Ost) 1987, S. 226f.
Und kurz danach sehen Fürst Andrej und Pierre, die zweite männliche Hauptfigur, den Generalstabschef Barclays, Wolzogen, und den hier bei mir im Blog oft lobend zitierten Carl v. Clausewitz, beide Deutsche:
„Fürst Andrej sah sich um und erkannte Wolzogen, Clausewitz und einen Kosaken. Sie ritten, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen, ziemlich nahe an den beiden vorbei, und Pierre und Fürst Andrej hörten unwillkürlich folgende Sätze:
„Der Krieg muß im Raum verlegt werden. Der Ansicht kann ich nicht genug Preis geben,“ sagte der eine.
„O ja,“ meinte der andere, „da der Zweck ist nur, den Feind zu schwächen, so kann man gewiß nicht den Verlust der Privatpersonen in Achtung nehmen.“
„O ja,“ stimmte der erste zu.
„Ja, im Raum verlegen,“ wiederholte Fürst Andrej, als sie vorbei waren, und schnob zornig dabei durch die Nase. „Mein Vater und mein Sohn und meine Schwester in Lyssyje Gory, die sind im Raum geblieben! Ihm ist das einerlei. Das ist es ja, was ich dir sagte: diese Herren Deutschen da werden morgen die Schlacht nicht gewinnen, sondern nur Schaden anrichten, soviel in ihren Kräften steht, weil in ihren deutschen Schädeln nichts drinsteckt als abstrakte Theorien, die kein hohles Ei wert sind, und weil sie gerade das nicht in ihren Herzen haben, was morgen allein not tut – ebendas, was in Timochin4 lebt. Ganz Europa haben sie ihm5 preisgegeben, und jetzt sind sie gekommen, um uns zu belehren! Herrliche Lehrmeister!“
aus: Tolstoj, Lew: Krieg und Frieden. Zweiter Band. Berlin (Ost) 1987, S. 229. (Kursivdruck entstammt dem Original)
Zuletzt sei noch an Kindersendungen (!!!) erinnert, die für mich in direktem Zusammenhang mit den von der jetzigen russischen Propaganda erwähnten Panzern mit den „Kreuzen“ stehen: Mein Enkel hat eine Zeitlang auf einem Videoportal massenweise Zeichentrick-Filmchen geschaut, die zum Großteil aus russischer Produktion kamen. In ihnen tauchten als die „Bösen“ alle Arten von Panzern mit dem „Kreuz“ auf.
Nein, das ist keine einseitige Beschuldigung Russlands. Schließlich sehen wir ja auf der anderen Seite die „Western“-Filme und Machwerke wie „Rambo“ und Co., die an primitiver Gewaltverherrlichung ebenso jugendgefährdend und vielleicht noch suggestiver, weil weniger holzhammermäßig, sind.
Abschließend noch eine Assoziation zu den „Kreuzen“: Wohl jeder in Russland wird die Filme Sergej Eisensteins kennen; auch hier dürften diese noch hinreichend bekannt sein. Einer dieser Filme schildert die Abwehr eines Angriffs der (deutschen) Kreuzritter auf das mittelalterliche Russland. Der Titel des Films: Alexander Newski, von 1938. Der Film ist durch und durch geprägt durch den fürchterlichen Eindruck, den die Gepanzerten des Kreuzritter-Heeres mit ihren schwarzen Kreuzen auf ihren weißen Umhängen und Schilden machen. Die dort Gepanzerten könnten als die Vorgänger der Panzer II, III und IV, der Panther und Tiger des II. Weltkrieges gesehen werden. (Der Artikel auf Wikipedia zu Alexander Newski schildert die Symbolik umfassend.)
Die Panzerlieferung von Leopard II (und bald Leopard I) wurde also von den russischen, gelenkten Medien sofort aufgegriffen, um an den Massenvernichtungskrieg Nazi-Deutschlands gegen die damalige Sowjetunion, und damit auch gegen ihr Land zu erinnern.
Fazit: Friedens-Führung unter Beachtung aller Aspekte von PERZEPTION:
Allein schon wegen der Lieferung dieses Propaganda-Angriffspunktes hätte der Kanzler die Lieferung aus Deutschland ausschließen müssen. Falls dennoch Aktivität für das NATO-Bündnis von Deutschland verlangt worden wäre, hätte man sich notfalls darauf zurückziehen können nicht zu protestieren oder pro-forma-Proteste zu äußern, wenn andere Länder im Besitz der Leoparden ihrerseits geliefert hätten. Der ganze Prozess um die Lieferung hat ja dann auch eine fast absurde Wendung genommen, als die „Verbündeten“ es nach der deutschen Zusage gar nicht mehr so eilig hatten mit IHRER Lieferung ihrer Leoparden.
Nachtrag vom 15.3:
Mein Handy zeigte mir heute unter Youtube ein extrem kurzes Video, das aber zum Thema passt. Der gute alte Helmut Schmidt, der Bundeskanzler, hat sich da in einem Interview zum damaligen Stand des Verhältnisses zwischen diesem Land und Russland geäußert. Immerhin ein hochrangiger Experte, auch wenn er die momentanen Entwicklungen nicht wissen konnte. Bei Interesse (hier sollte eigentlich nur der Link zum Video stehen, das Programm hat sofort das Filmchen eingefügt):
1Oberst Mjassojedow war ein Vertrauter des russischen Kriegsministers Suchomlinow. Mjassojedow geriet in Verdacht ein deutscher Spion zu sein und wurde im März 1915 hingerichtet.
2Eine Rückzugsbewegung im Sommer 1915 als Reaktion auf eine Offensive der deutschen und österreichisch-ungarischen Armee. Auf Grund der organisatorischen Unfähigkeit des Zarismus artete der Rückzug in eine panikartige Flucht aus. Diese bekam den Eigennamen „Großer Rückzug“. Die Misserfolge erklärten sich viele mit Verrat hoher zaristischer Militärs und Politiker.
3Stürmer, Boris Wladimirowitsch (1848-1917). Wurde von der Zarin und Rasputin gefördert. Wohl deshalb wurden ihm vom Zaren Mitte 1916 die im Text genannten Ministerien übertragen.
4Eine Figur aus dem Roman. Ein einfacher Artillerieoffizier, der ohne große Überlegungen mehr mit dem Herzen spürt, was gerade notwendig ist.
5Gemeint ist Napoleon.