Nachdem ich beim letzten Mal den Appell von Michael S. Gorbatschow hier vorgestellt und kommentiert habe, möchte ich dies heute in anderer Form mit dem Appell von gleich VIER bedeutenden Politikern der Bundesrepublik tun: Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Egon Bahr und Richard v. Weizsäcker. Den Link hierzu wie den zu dem Appell der VIER US-Politiker, von denen gleich im Anfang dieses deutschen Appells die Rede ist, hatte ich in dem letzten Artikel zu Gorbatschow genannt.
Die Autoren des Appells hier hatten während großer Krisen von Mitte der 60ger Jahre bis nach 1989 alle bedeutenden Ämter der Bundesrepublik inne, sie sind Experten höchsten Ranges. – Erstaunlich ist, dass sie erst zwei Jahre nach dem Appell der US-Politiker hierauf „aus deutscher Sicht“ antworten. Aber die Lösung dieser Frage würde diesen Artikel wohl auf den Umfang eines kleinen Büchleins erweitern. Da mag jeder von Ihnen sich selbst fragen – das Jahr 2008 könnte dabei wichtig sein.
(Die heutige Aktualität kommentiere ich im Anschluss an die Wiedergabe des Dokumentes)
„Für eine atomwaffenfreie Welt
Henry Kissinger, George Schultz, William Perry und Sam Nunn haben 2007 zu einer atomwaffenfreienWelt aufgerufen. Sie haben in Administrationen von Republikanern und Demokraten als Außen-,Verteidigungsminister und im Vorsitz des Streitkräfteausschusses des Senats Respekt in den Vereinigten
Staaten und darüber hinaus erworben. Gerade ihr Wissen und ihre Erfahrungenverleihen ihrer Sorge vor wachsenden atomaren Gefahren Gewicht. Als Realisten wissen sie, dass die Abschaffung aller Nuklearwaffen nur schrittweise erreichbar ist, und schlagen dringend praktische Schritte vor, damit aus
der notwendigen Vision Wirklichkeit wird.
In den Vereinigten Staaten hat dieser Aufruf ein breites Echo ausgelöst und prominente Unterstützung erhalten. Beschlüsse europäischer Regierungen zur Unterstützung sind nicht bekanntgeworden.
Unsere Antwort berücksichtigt aus deutscher Sicht die Erwartungen, die sich an die Präsidentschaft Barack Obamas knüpfen. Das Schlüsselwort unseres Jahrhunderts heißt Zusammenarbeit. Kein globales Problem ist durch Konfrontation oder durch den Einsatz militärischer Macht zu lösen: weder die
Bewahrung der Umwelt und der Klimaschutz oder auch der Energiebedarf für eine wachsende Weltbevölkerung, noch die Bewältigung der globalen Finanzkrise. Die Vereinigten Staaten tragen eine herausragende, unentbehrliche Verantwortung.
Das gilt erst recht in einer Zeit, in der die Zahl der Staaten steigt, die über Atomwaffen verfügen oder die sich die Fähigkeit verschaffen, solche Waffen herzustellen und damit das Rohmaterial für einen katastrophalen Terrorismus. Gleichzeitig entwickeln die Atomstaaten neue nukleare Waffen.
Den Aufruf der vier amerikanischen Persönlichkeiten zu einem scharfen Richtungswechsel in der Atompolitik nicht nur ihres Landes unterstützen wir ohne Vorbehalt. Das gilt insbesondere für folgende Vorschläge: Die Vision einer Welt ohne nukleare Bedrohung, wie sie Reagan und Gorbatschow in Reykjavík entwickelt haben, muss wiederbelebt werden. Mit dem Ziel einer drastischen Verringerung der Atomwaffen sind Verhandlungen aufzunehmen, zunächst zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, die über die größte Zahl von Sprengköpfen verfügen, um auch die anderen Staaten dafür zu
gewinnen, die über solche Waffen verfügen. Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) muss entscheidend gestärkt werden. Amerika muss den Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBT) ratifizieren. Alle atomaren Kurzstreckenwaffen müssen vernichtet werden.
Aus deutscher Sicht ist zu ergänzen: Die Vereinbarung zur Reduktion der strategischen Waffen läuft in diesem Jahr aus. Hier ergibt sich der dringlichste Handlungsbedarf zwischen Washington und Moskau.
Für die Überprüfungskonferenz des NVV 2010 wird entscheidend sein, dass die Atomwaffenstaaten endlich ihre Verpflichtung nach Artikel VI des Vertrages zur Verringerung ihrer Arsenale einlösen.
Der Vertrag zur Raketenabwehr (ABM) muss wiederhergestellt werden. Der Weltraum darf nur für friedliche Zwecke genutzt werden. Die Zusammenarbeit im Interesse gemeinsamer Sicherheit hat die Präsidenten Bush und Gorbatschow befähigt, zum Ende des Kalten Krieges die gegenseitige Bedrohung durch atomare Mittelstreckenraketen zu beseitigen und 1990 die größte konventionelle Abrüstung in der Geschichte zu schaffen. In den mehr als 18 Jahren seither wurde dieser KSE genannte Vertrag das Fundament der Stabilität in Europa. Er entspricht bis heute den Interessen aller Beteiligten.
Diese Stabilität war solide und verlässlich genug, um die deutsche Einheit zu verkraften, das Ende des Warschauer Paktes zu überstehen, die Implosion der Sowjetunion zu überleben, die Souveränität der baltischen Staaten zu ermöglichen und die Erweiterung der Nato und EU bis zur Realität des Jahres
2009 auszuhalten.
Sie wäre zum ersten Mal gefährdet durch den amerikanischen Wunsch, am Ostrand der Nato in Polen und der Tschechischen Republik Raketen mit einem dazu passenden Radarsystem auf exterritorialen Stützpunkten zu stationieren. Ein solcher Rückfall in die Zeiten der Konfrontation mit den Folgen von Aufrüstung und Spannung kann durch eine einvernehmliche Regelung zum Thema der Raketenabwehr vermieden werden, die auch den Interessen von Nato und EU entspricht – am besten durch die Wiederherstellung des ABM-Vertrages. Damit würde zugleich die Anpassung des KSE-Vertrages erleichtert und der Weg in eine größere Dimension geöffnet werden.
Barack Obama hat in Berlin gefordert, das Denken in den Kategorien des Kalten Krieges zu überwinden. Das knüpft an die Überlegungen an, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts unter dem Begriff der Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok diskutiert wurden. Gorbatschow konnte seine Ideen für ein gemeinsames europäisches Haus nicht mehr verfolgen. Nun plädiert der russische Präsident Medwedjew für eine neue gesamteuropäische Sicherheitsstruktur.
Wir empfehlen, die Chance ernsthaft zu sondieren. Sicherheit und Stabilität für den nördlichen Teil des Globus – das ist nur mit einer soliden und verbindlichen Zusammenarbeit zwischen Amerika, Russland, Europa und China zu schaffen. Sie würde die bestehenden Vereinbarungen von Nato, EU und OSZE respektieren und erforderlichenfalls eigene institutionelle Formen finden. Stabile Sicherheit im Norden unserer Welt würde gewiss globale Krisen entspannen und leichter lösbar machen. Grundsätzliche Bemühungen der Vereinigten Staaten und Russlands zu einer atomwaffenfreien Welt würden es erleichtern, mit allen anderen atomar bewaffneten Staaten – ob mit oder ohne ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UN – Verständigung über ein adäquates Verhalten zu erzielen. Ein Geist der
Kooperation könnte sich vom Nahen Osten über Iran bis nach Ostasien auswirken.
Deutschland hat durch eine Politik der Entspannung, gedeckt von seinen Verbündeten, Voraussetzungen für seine Selbstbestimmung erreicht. Seine friedliche Vereinigung verdankt es dem Zwei-plus-vier Vertrag, in dem sich das Prinzip der Zusammenarbeit über alte Grenzen hinweg bewährt hat. Es
gestattete historische Fortschritte der Abrüstung und Rüstungskontrolle für ganz Europa. Ein Ergebnis war der Nato-Russland-Rat, der seine volle Wirksamkeit erst in einem Geist der Kooperation entfaltenkann. Relikte aus der Zeit der Konfrontation passen nicht mehr in unser neues Jahrhundert. Partnerschaft verträgt sich schlecht mit der immer noch gültigen Doktrin der Nato und Russlands zum Erstgebrauch von Atomwaffen, auch wenn beide Seiten nicht atomar angegriffen werden. Einallgemeiner Non-first-use-Vertrag unter den atomar bewaffneten Staaten wäre ein drängend wünschenswerter Schritt.
Deutschland, das auf atomare, biologische und chemische Waffen verzichtet hat, muss jedenfalls darauf dringen, dass die Nuklearstaaten sich verpflichten, keine Atomwaffen gegen Länder einzusetzen, die über solche Waffen nicht verfügen. Wir vertreten auch die Auffassung, dass die restlichenamerikanischen Atomsprengköpfe aus der Bundesrepublik Deutschland abgezogen werden sollten.
Zusammenarbeit als Schlüsselwort unseres Jahrhunderts und sichere Stabilität auf dem nördlichen Teil unseres Globus können Meilensteine auf dem Weg zu einer nuklearwaffenfreien Welt werden. Das sind unsere Antworten auf den Aufruf von Kissinger, Schultz, Perry und Nunn.“
(Der Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Januar 2009; Fettdruck wurde von mir hinzugefügt)
Mein Kommentar zur Aktualität des Aufrufs heute:
Dass die Autoren erprobte Spitzenpolitiker sind, hatte ich anfangs gesagt. Auch sind sie zu gewissen Zeiten ihrerseits für Aufrüstungsschritte eingetreten – Helmut Schmidts Position bei der „Nachrüstung“ dürfte bekannt sein. Gerade dies macht Abrüstungs- und Kontroll-Appelle von diesen Politikern so wertvoll …
und so aussagefähig, so etwa, wenn sie davon sprechen, dass es keine keine Beschlüsse europ Staaten zum Abrüstungsappell von Kissinger & Co. gab.
Für mich immer wieder erstaunlich ist es, wenn ich in älteren Texten Inhalte finde, die fast oder zum großen Teil zur heutigen Situation passen: Dies trifft in diesem Dokument wieder zu: Keine (damalige) Krise ist ohne „Zusammenarbeit“ lösbar: Klima, Energie, Umwelt, Finanzkrise – und die haben wir doch heute noch in gesteigertem Maße, u.a. weil ja in Sachen Klima jetzt die 26. Konferenz tagt …
Eine weitere Krise wird im Moment wegen des europäischen Krieges (also Russland – Ukraine/Nato) gar nicht mehr thematisiert: die steigende Zahl von Atombesitzenden und Terroristen, ich möchte hinzufügen: des wiedererstarkenden Islamismus (Mali, Afghanistan etc.).
Die Autoren rufen auf: Verträge einhalten, erneuern schaffen: NVV CTBT, Reduktion strat. Waffen, ABM, Weltraum, INF/KSE. Sie urteilen, dass insbesondere durch die letzten Verträge seit 1989 in vielen Krisen Stabilität herstellbar war, und dass die Verträge als solche belastbar seien und :sie „entsprechen bis heute den Interessen“. Ich überlasse es den dies Lesenden sich eine Liste zu machen mit all diesen Verträgen, und jeweils zu notieren, ob und wie lange Verhandlungen geführt wurden zur Aktualisierung dieser Verträge, und wer sie letztendlich gekündigt hat.
(Exkurs: Natürlich ist es gute diplomatische Trickserei eine Situation hervorzurufen, in der der Vertragspartner selbst den Vertrag kündigt. So steht man selbst vor der Weltöffentlichkeit „sauber“ da. Allerdings könnte ja auch die andere Seite so gut getrickst haben. – Jedenfalls ist es auf alle Fälle fast so etwas wie eine diplomatische Niederlage für denjenigen, der einen Vertrag kündigt bzw. nicht verlängert. DAS historische Paradebeispiel ist die Nichtverlängerung des „Rückversicherungsvertrages“ durch die Enkel-Generation Bismarcks, also die um Wilhelm II:
Höchst erstaunlich finde ich, dass Politiker, die ja fest im Westen stehen und standen, hier urteilen, dass eine „rote Linie“ eindeutig von der westlichen Führungsmacht durchbrochen wurde.
„Sie wäre zum ersten Mal gefährdet durch den amerikanischen Wunsch, am Ostrand der Nato in Polen
und der Tschechischen Republik Raketen mit einem dazu passenden Radarsystem auf exterritorialen Stützpunkten zu stationieren.“
Und ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass es etwa zwei Monate her ist, dass europäische Regierungen die Errichtung eines „Schutz“-Schildes gegen russische Raketen beschlossen haben. Ich hatte damals schon darauf hingewiesen, dass es in der Berichterstattung keinen Hinweis auf den Grundgedanken von ABM-Verträgen gab – und also auch keinen Hinweis auf die Konsequenzen, wenn man von solchen Grundgedanken abgeht: es geht um Grundprinzipien der Abschreckung!!!
Da ja im Moment der jetzige russische Präsident dämonisiert wird, wovor übrigens Kissinger warnt: Die vier deutschen Autoren erwähnen den damaligen russischen Präsidenten Medwedjew ohne jede herabsetzende Formulierung, und attestieren ihm inhaltlich ein positives Bemühen.
NOch zwei Bemerkungen:
- China wird als gleichberechtigter Partner bei der Lösung globaler Probleme genannt, hier auch wieder ohne herabsetzende Bemerkungen wie etwa über die Uiguren oder die Machtfülle des dortigen Präsidenten oder die Null-Covid-Politik.
2. „Wir vertreten auch die Auffassung, dass die restlichen
amerikanischen Atomsprengköpfe aus der Bundesrepublik Deutschland abgezogen werden sollten.“ Dieser Empfehlung wird gerade genau nicht entsprochen! Im Rahmen des 100 000 000 000 -„Sondervermögens“ (das ist ein Euphemismus) sind etliche Milliarden für den Kauf von F-35-Kampfbombern eingeplant:
für den eventuellen Transport von US-Atomsprengköpfen auf deutschen Bombern!!!