Ja, mein Erstaunen in der Überschrift über noch eine Expertin oder einen Experten resultiert daraus, dass die „Experten“ seit 2022 wie Pilze aus dem Boden schießen. Hier in einer viel gelesenen Illustrierten darf jetzt wieder eine Sicherheits-“Expertin“ ihre tiefen Erkenntnisse auf das deutsche Volk loslassen. Es handelt sich um den STERN vom 13. November, also brandneu. Das interview wird schon groß auf der Umschlagseite angekündigt: „ Und wann greift Putin an?“
Geht man zum eigentlichen Interview auf die Seite 64, so stößt man auf ein ganzseitiges Foto einer Dame, die dort in herausfordernder Pose steht. Dem ahnungslosen Leser wird das Interview dadurch sehr nahegelegt: Zuerst die Personalisierung auf der Umschlagseite – das mit dem „Putin“ wird uns ja täglich in unendlich vielen Veröffentlichungen präsentiert; dann die Tatsache, dass auch hier im Bereich Sicherheit/Militär endlich mal Frauen zu Wort kommen – sie wecken Vertrauen, da man meint: Die muss ja große Kenntnisse haben, wenn sie als Frau eine Sicherheitsexpertin ist; schließlich eben das Foto, das sie sehr resolut zeigt. Dieses Foto verstärkt den Eindruck, den ich gerade genannt habe.
Und dann die Überschrift zu dem eigentlichen Interview, also direkt neben dem resoluten Foto auf Seite 64: „Wofür sind wir bereit zu sterben? Darauf hat Deutschland keine Antwort“. Ich will hier direkt in die Kritik einsteigen:
Welches Sterben meint Frau Gaub? Etwa das Sterben, wie es 1815 in Waterloo geschah – also das Sterben von Berufssoldaten? Oder vielleicht das Sterben wie auf Kreta 1866 im Kloster von Arkadi, wo sich ca. 800 Leute jeglichen Geschlechts in die Luft sprengten, um der Sklaverei beim osmanischen Sultan zu entgehen? Oder – ich mache jetzt einen Zeitsprung – das Sterben in Hiroshima? Selbst im letzten Beispiel haben wir ja nur die komplette Bevölkerung einer Stadt, die starb, während der Rest des japanischen Volkes weiterlebte?
Ich will mit diesen Beispielen auf folgendes hinweisen: In allen früheren Zeiten starben im Krieg immer nur Bruchteile eines Volkes. Die „Helden“, die sich opferten, wussten immer, dass Teile ihres Volkes die Botschaft ihres „Helden“-Todes weitertragen würden.
Spätestens seit der Cuba-Krise 1962 wussten die führenden Staatsmänner, dass ihr falsches Handeln zum globalen Overkill führen kann. In den Gebieten, wo sich ein atomar geführter Krieg austoben würde, gibt es keine Überlebenden, die – wie in den Beispielen von früher – die Botschaft des heldenhaften Kampfes weitertragen würden.
Kurz:
Frau Gaub und der STERN sollten endlich kapieren, dass das Wort „sterben“ heute etwas völlig anderes bezeichnet als in allen früheren Zeiten. Genau dies leistet der Satz „Wofür sind wir bereit zu sterben?“ nicht, denn er sagt nicht, wer das „wir“ ist, das da sterben soll oder wird.
Beide, Gaub und STERN, drücken sich also um die Frage des Kriegsbildes. Diese ist aber in einer soliden Analyse ohne Wunschdenken absolut grundlegend.
Welche tiefgreifenden weiteren Einsichten hat Frau Gaub?
– Zunächst einmal die Einsicht, dass Kriege nicht allein durch „Waffen und Soldaten“ entschieden werden. Richtig, aber banal: Genau das habe ich in den historischen Beispielen oben angedeutet, wenn auch nicht langatmig ausgeführt.
– „Angst“ sei eine russische Kriegswaffe. Nun, von Angst als Waffe können viele Nationen der heutigen Welt ein Lied singen. Analysiert hat „Angst“ als Waffe der US-Politik die Autorin Naomi Klein in ihrem Werk: Die Schock-Strategie. Von 2007, gut 700 Seiten. – Klar, dass unsere Sicherheitsexpertin das nicht erwähnt. Etwa, weil sie es nicht kennt???
– Finnland als Beispiel für Kriegsbereitschaft der Bevölkerung. Ich kann das Beispiel Finnland (oder Schweden oder Norwegen) bald nicht mehr hören. Jeder Wissenschaftler weiß, dass man diese kaum besiedelten Länder nicht vergleichen kann mit dem Land Europas, welches neben Holland das am dichtesten besiedelte ist.
– Es rollen keine Panzer mehr „durch Berlin“, so Frau Gaub. Der Krieg der Zukunft bestünde aus hybriden Attacken. Nun, Frau Gaub sollte wissen, dass eine wirkliche Entscheidung in einem „Krieg“ nur durch die tatsächliche Besetzung eines Landes fällt. Also: Falls es so was wie „Krieg“ hier erneut geben würde, und falls er nicht atomar geführt würde, so müsste der „böse“ Putin doch seine Panzer „durch Berlin“ schicken – auch gegen die Meinung von Frau Gaub. All diese hybriden Kriegsbilder zeigen, dass Frau Gaub die Natur des Krieges nicht versteht. Ich hatte das oben beim Thema Kriegsbild schon bewiesen.
– Der russische Plan: Frau Gaub meint, dass Russland „Weltmacht“ werden wolle und dafür „Zugänge zur Arktis, zum Südchinesischen Meer oder zum Persischen Golf“ bräuchte. Nun, Frau Gaub nennt hier politische Ziele, die Russland auch ohne Krieg in Europa verwirklichen könnte. Sie selbst meint: „…so deute ich die neu aufgenommenen Beziehungen zum Iran“, also sie meint meint damit das russische Ziel des Zugangs „zum Persischen Golf“. Mit Verlaub: diese Ziele kann Russland allein schon durch kluge Diplomatie erzielen, also durch Übereinkünfte mit „Iran“, mit China. Übrigens: Niemand hat Russland mehr in die Arme Chinas getrieben also die USA-NATO-Politik gegenüber der Ukraine.
– Frau Gaub: Russland habe ein anderes Verhältnis zur Gewalt als ‚wir‘ Europäer. Nun, man frage die entkolonialisierten Völker nach dem europäischen Verhältnis zur Gewalt, man frage die Iraker, die Afghanen, die Libyer, die Inder, die Chinesen (s. die Boxer-Rede Kaiser Wilhelms). Das, was Frau Gaub zu meinen glaubt, ist eine Entwicklung der letzten 75 Jahre, in denen Europa wusste, was ihm blüht, wenn es nicht der Gewalt (im eigenen Bereich) abschwört.
– Frau Gaub zur deutschen Führung: Herr Merz sei nicht „angstgesteuert“; er gehöre nicht „nach 1990 zu der Denkschule, die meinte: Wandel durch Handel, Dialog mit Russland und der Abbau der Bundeswehr“; Merz habe nicht wie Scholz eine „Berührungsangst mit dem Militär und auch nicht damit, dass es kracht“. – Nun, Frau Gaub sagt nicht, welche „Denkschule“ denn bis „1990“ den Ton angab und damit Erfolg hatte, dass sie „Wandel durch Handel, Dialog mit Russland“(damals: Sowjetunion) verfolgte. – Frau Gaub sagt nicht, dass die Bundeswehr nach 1990 gar nicht abgebaut wurde, sondern nur umgebaut wurde – nämlich für neokoloniale Einsätze im Gefolge der USA wegen „9/11“.
Was Frau Gaub mit dem Ausdruck „kracht“ meint, möchte ich gar nicht wissen, schon gar nicht mir vorstellen. Interessant wäre nur, welches Flugticket Frau Gaub wohl lösen wird, wenn es an der NATO-Russland-Grenze die ersten wirklichen Zwischenfälle mit Toten gibt: Ich vermute, dass Frau Gaub da internationale Kontakte bemühen wird.
Verehrte Leserin, verehrte Leser:
Das Geschwurbel dieser „Zukunftsforscherin“, die „NATO-Regierungen zu den Kriegen, die noch kommen“ werden laut STERN berät, widert mich an. Diese „NATO-Regierungen“ dürften mit solch halbgarem Schwachsinn genau in die „Kriege, die noch kommen werden“ geführt werden.
Ich will also die letzte Seite des Interviews (S. 68) gar nicht mehr kommentieren. Da lese ich schon lieber die Ergüsse von Herfried Münkler zum Heldentum – da habe ich wenigstens das Original, denn Frau Gaub ist nur eine Kopie.
Abschließend:
Damit die Kopie Frau Gaub auch so richtig jugendwirksam ‚rüberkommt, bringt der STERN auf Seite 67 ein Foto à la Baywatch (echt!!!): „So will sie junge Menschen erreichen: Gaub als Star-Wars-Soldatin in einem KI-generierten Video auf Instagram.“
Nun, da haben wir in einem Satz alle Faktoren, die das „finis Europae“ und das „finis Germaniae“ herbeiführen werden: Verführung von Jugendlichen; Kriegsbild durch exzessives Star-Wars-Schauen generiert; KI als angebliches Qualitätskriterium; Instagram für Leute, die sowieso nicht mehr glauben wollen, dass es in dieser Welt um etwas wirklich Ernstes gehen könnte.