- Sind sie sachlich begründet?
Am 30. Januar im „Tagesspiegel“:
„Generalinspekteur der Bundeswehr: Deutschland macht mit Nato-Großübung Quadriga ‚Schritt zur Kriegstüchtigkeit‘
Bei dem Manöver sollen Truppen nach Litauen verlegt werden und die russische Exklave Kaliningrad umstellen.“
Die Ausdrucksweise mit dem „umstellen“ ist wohl die des Tagesspiegel, aber dass es im engeren Sinne um die Enklave Kaliningrad geht, dürfte der sachliche Kern sein. Ich meine, dass es ziemlich provokativ ist, wenn gerade die Bundeswehr sich um das 1945 verlorene Gebiet um Königsberg/Kaliningrad gruppiert, ja es vielleicht sogar „umstellt“.
Neben dieser Nachricht von heute: Allein in der Woche nach dem 2. Advent1 erhielt ich einige Zeitungsartikel, die alle eine sogenannte Bedrohungslücke rund um die baltischen Staaten (Litauen, Lettland, Estland) sahen und deshalb Aufrüstung forderten, ja, sogar eine eigenständige Atomrüstung der EU!!! Dies fand sogar Frau „Flak“-Zimmermann (FDP-Europa-Spitzenkandidatin) unrealistisch, weil ein unter den Staatschefs Europas rotierender Atomkoffer wohl nicht funktionieren würde.
Was alle Aufrüster eint:
Sie meinen, dass man notfalls bei der Verletzung der Grenze eines der baltischen Staaten den Großen Krieg zwischen NATO und Russland führen solle. Man solle sich davor nicht drücken. Denn: Die Aufrüster warnen vor einer Haltung, wie er sich im 1939/1940 kursierenden Slogan ausdrückte:
„Mourir pour Danzig?“ – Sterben für Danzig?
Dieser Slogan war vor dem 2. Massenvernichtungskrieg die Parole derjenigen, die selbst einen Überfall des damaligen Deutschland auf das Völkerbund-Danzig hinnehmen wollten, wohl wissend, dass das damalige Polen genau dies als Angriff auf sich verstehen würde – nach all den Hitler-Aggressionen gegen die Tschechoslowakei. Denn diese Leute mit dieser Parole meinten: wenn man „wegen Danzig“ gegen das damalige Deutschland in den Krieg ziehen würde, dann wäre die Neuauflage des 1. Weltkrieges/Massenvernichtungskrieges da.
Diejenigen, die also nicht „für Danzig“ sterben wollten, meinten damit, dass man keine europäischen Krieg beginnen solle, nur, weil Hitler einige weitere Grenzstreifen annektieren wollte.
Die Position dieser Leute war also ein Super-Appeasement. Und vor so einer Haltung möchten uns die heutigen Aufrüster mit dem historischen Beispiel warnen.
Was würde heute solch eine Art Appeasement aussehen?
Als Aufrüster von heute, der vor „Appeasement“ warnt, könnte man darauf kommen, dass „Putin“ alle westlichen Teile des Zarenreiches zurückholen will. Und wenn dies so wäre, so könnte tatsächlich – scheinbar – eine Situation entstehen, in der er z.B. Estland „heimholt“. Dann stünde NATO vor der ähnlichen Frage wie die Appeaser von 1939: Mourir pour Tallinn???? (freie Übersetzung: Sollen die NATO einen Krieg mit Russland anfangen, der sehr wahrscheinlich zum Atomkrieg wird, nur weil Putin Estland haben will.)
Solches Szenario beschwören heute diejenigen, die ich im 1. Abschnitt genannt habe. Sie benutzen historische Beispiele aus der Zeit von 1933-1945. Sie wenden also die argumentative Technik an, die schon Joseph Fischer, Außenminister, 1999 zur Begründung des Kriegs gegen Serbien anwandte.
Wenn das Denken dieser Leute stimmen sollte, so käme man zu folgendem Ergebnis:
Diese Leute behaupten: ‚Die Geschichte beweist es: ja, man muss für Danzig/Tallinn sterben‘.
Ich muss zugeben: ein Feigling, der ein NATO-Mitglied so ohne Gegenwehr im Stich lassen würde!!! Und: ich könnte mir auch vorstellen, dass „Putin“ eine solche NATO verachten würde. Denn man kann nicht jemandem seinen Beistand versprechen und diesen Beistand dann verweigern, wenn dieser Jemand angegriffen wird.
Nur:
Ist das Szenario eines russischen Überfalles auf einen kleinen NATO-Staat glaubhaft?
Muss deswegen auf allen europäischen Ebenen aufgerüstet werden, wie es die oben genannten Pläne alle vorsehen?
Damit der Artikel hier nicht zu lang wird, will ich als erstes auf folgendes hinweisen:
Jeder in Russland hat wohl verstanden, dass schon die westliche Unterstützung für die Ukraine viel stärker war als die russische Führung dies im Februar 2022 vermutete, auch wenn diese Unterstützung 2024 sich verringern sollte. Der politische Schaden für Russland aus dieser Aggression ist selbst schon bei einem baldigen Zusammenbrechen der Einheit des Unterstützer der Ukraine immens, d.h. unermesslich. Einige Beispiele für den politischen Schaden:
– Eine um ca. 50% verlängerte Grenze zur NATO wegen Finnland und der jetzt neu besetzten Provinzen Saporischja und Cherson. (Ich betrachte diese territorialen Gewinne – soweit sie in einem Friedensvertrag enthalten wären – also nicht einseitig als Vorteil wegen des Landzugangs zur Krim, sondern als Nachteil wegen der Grenzverlängerung).
– Totales Ende der Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, außer solchen über Schmugglerwege.
– Totales Ende von sonstigen Beziehungen, etwa im Bereich der Technik und der Forschung.
– Als Resultat davon: verstärkte Abhängigkeit von China
Weiter mit den Schäden für Russland:
– Menschenverluste gerade unter jungen Männern angesichts einer auch schon vor dem Krieg schrumpfenden Bevölkerung
– Hohe Soziallasten durch die Kriegsverstümmelten.
Die Auflistung könnte man noch länger gestalten. Aber ich wollte ja nur einige Beispiele nennen, um die Richtung meiner Gedanken aufzuzeigen.
Wenn Russland so viele weitere und endgültige Nachteile in Kauf nähme, dürfte klar sein: Ein Angriff auf einen der baltischen Staaten hätte als Voraussetzung das komplette und dauerhafte Ende jeglicher Politik zwischen Russland und den einzelnen NATO-Staaten. Mit „Politik“ meine ich die Gesamtheit aller Beziehungen zwischen Staaten und ihren Menschen. Damit man sich das Gemeinte vorstellen kann, hier wieder ein paar Beispiele :
Das Ende aller Hoffnungen in Moskau auf Uneinigkeit im Westen, denn solange diese Hoffnung besteht, nährt man diese nicht mit einer Verzweiflungstat wie dem Angriff auf einen der baltischen Staaten.
Oder: Das Ende aller Hoffnungen, sich aus der Abhängigkeit von China durch Kontakte zum Westen oder zu einzelnen Staaten dort zu befreien.
Kurz: Eine Aggression gegen Estland oder Lettland oder Litauen wäre die komplette Verzweiflungstat, das Ende aller Politik.
Deshalb: Ist eine solche Aggression wahrscheinlich? Kaum, denn:
- Russland hat den Beitritt der Balten zur NATO im Jahre 2004 ohne Krieg hingenommen, obwohl dadurch (aus Moskauer Sicht) die nördliche Zange der Umklammerung/Einkreisung Russlands entstand. Die Ukraine in der NATO wäre die südliche Zange, also so etwas wie das Instrument für eine gewaltige Kesselschlacht, eine Super-Wiederholung der Schlacht von Kursk 1943. Deshalb hat es ja auch 2022 so reagiert – und eben nicht beim Beitritt der Balten im Jahre 2004.
Kann der Westen diese Aggression mit den vorhandenen Kräften „abschrecken“. Ich meine: Ja! Ich will nur etwas aus der klassischen Kriegführung anführen:
– Russland ist schon bei dem jetzigen „Frontverlauf“ und den jetzt vorhandenen NATO- Kräften extrem verwundbar, nämlich in seinem Territorium. Ein Beispiel nur: Entlang der nun ca. 4500 km langen „Front“ wäre es für NATO ein Leichtes ein Stück Russlands als Gegenpfand zu der angenommenen Aggression gegen Estland zu nehmen – am „einfachsten“ kann das jeder von Ihnen mit einem Blick auf die Enklave Kaliningrad/Königsberg auf der Karte sich vorstellen.2
Hier liegt ja übrigen, siehe die Einleitung, einer der Schwerpunkte des jetzigen NATO-Manövers!
Also:
Um von einer Aggression gegen Estland „abzuschrecken“ reichen schon die jetzt vorhandenen militärischen Kräfte der NATO aus. Da müssen diese militärischen Instrumente nicht noch mit all den mit diesem Ausbau verbundenen Risiken für die nicht-militärische, politische Gestaltung des Verhältnisses NATO-Russland ausgebaut werden.
Mit dieser Möglichkeit eines Gegenpfandes zu einem sowieso selbstmörderischen russischen Angriff hat man auf jeden Fall ein Mittel auch in den möglichen Szenarien eines „hybriden“ Krieges.
Uferlose Aufrüstungspläne statt Politik
Ich hatte eben von der „Politik“ als Verkörperung aller Beziehungen zwischen den Staaten gesprochen, also gerade auch solchen Beziehungen, die „win-win-Situationen“ hervorbringen. Statt dessen erleben wir nur den Ausbau militärischer Mittel, nur von Instrumenten der Kriegslogik. Und:
Diese Ausbaupläne sind ja geradezu uferlos. Zwei Beispiele nur:
Gerade fordert der bundesdeutsche Kriegsminister die Wiedereinführung der Wehrpflicht! Gerade werden Zukunftsinvestitionen geopfert auf dem Altar der 100 000 000 000 „Sonder-Vermögens“-Schulden.
Polen plant so etwas wie die stärkste Armee Europas (Europa hier außer Russland und Bjelarus).
Nur wenn diese uferlosen Aufrüstungen nach der Logik des Krieges verwirklicht würden, wäre eine Verzweiflungstat wahrscheinlich, weil die Gegenseite befürchten müsste totgerüstet zu werden – schließlich beträgt das russische Bruttoinlandsprodukt nur einen Bruchteil dessen, was die EU und die USA hervorbringen.3
Deshalb müssen alle Instrumente außerhalb der Kriegslogik ausgebaut und benutzt werden, vorrangig zu den Instrumenten des Krieges.
Und auch hier wieder EIN Beispiel, das mir immer wieder einfällt, weil es Russland und die baltischen Staaten im Zustand des Konfliktes hält. Dieses Beispiel nenne ich nur um anzudeuten, was man alles aus dem unendlichen Feld der Politik (siehe oben, ohne Kriegslogik) sich einfallen lassen kann, um zwischen den verfeindeten Lagern wieder etwas Zukunftsweisendes in Gang zu bringen.4
Also: Das Beispiel betrifft Russland und die baltischen Staaten unmittelbar. Es wäre in seiner Realisierung schwierig ist, aber lohnend, da der jetzige Zustand großes Konfliktpotential besitzt: in allen baltischen Staaten lebt seit der Zarenzeit und der Sowjetzeit eine nicht unbeträchtliche Minderheit von Menschen, die sich als Russen fühlen und sich z.T. auch von der Mehrheitsbevölkerung diskriminiert fühlen – während die Mehrheitsbevölkerung wieder die Minderheit fürchtet. Nun, was könnte diesen Konfliktherd de-eskalieren, wenn nicht etwas von folgender Art:
die freiwillige Rücksiedlung dieser Minderheit nach Russland mit großzügiger finanzieller Hilfe des Westens.
„Freiwillig“ heißt, dass es dem Einzelnen überlassen bleibt, ob er umsiedelt; falls nicht, muss er sich allerdings zu diesen Staaten bekennen. „Finanzielle Hilfe“ – damit ist das gemeint, was bei der Rückführung der Sowjetarmee Anfang der 90ger von Deutschland an die Rückführungsländer an Finanzhilfen floss.
Ich gehe davon aus, dass die baltischen Staaten selbst dies als befreiend erleben würden. Auch Russland könnte es als „Win“-Situation ansehen, denn es hat das Problem einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung.
Eine Rück-Siedlung würde also allen Beteiligten Vorteile bringen. Zu berücksichtigen wäre, dass dieser „Rückzug“ in Russland nicht weiter Demütigung dargestellt werden kann, deshalb auch die „finanzielle Hilfe“ als ein Instrument, die Maßnahme zu versüßen im Sinne des alten diplomatischen Instrumentes des „Goldene-Brücken-Bauens“.
Nachbemerkung:
Oben sprach ich von der extrem verlängerten Grenze Russlands zum „Westen“ als einem Moment, welches Russland zur Vorsicht mahnen kann oder welches auch provozierend wirken kann, also zu Verzweiflungstaten ermuntern kann. Dies hängt von den begleitenden politischen Schritten ab, ob diese dem Instrumentarium der Kriegslogik entstammen oder dem der Friedenslogik. Integraler Bestandteil dieser längeren Grenze ist die Ukraine. Ich unterstelle eine Ukraine, die sich nicht in weiteren Offensiven schwächt, sondern den jetzigen Grenzverlauf befestigt und aus dieser Position einer gewissen Stärke einen Friedensvertrag mit Russland schließt. Dieser würde beinhalten, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt, aber eine nennenswerte Armee behält. Letztere wäre dann im Verbund mit der gewaltigen Grenze wieder ein Instrument Russland zur Vorsicht in seinen Aktionen zu bewegen.
1Auch um Mitte Januar erhielt ich weiter solche Alarm-Rufe, teilweise fußend auf „Bild“-Artikeln. Bild titelte am 30. Januar (!!!! Beachte die historische Dimension) mit der üblichen Dämonisierung und etwa diesen Worten: Viele Deutsche erwarten Putin-Angriff
Letzte redaktionelle Bemerkungen:
In diesem Artikel wollte ich nicht das private Interview jenes US-Journalisten aus dem Dunstkreis Trumps mit dem russischen Präsidenten berücksichtigen und auch nicht die Trump-Äußerungen zur NATO vom 11-2-24 und auch nicht die Replik des NATO-Stoltenberg.
2Hier höre ich den Einwand, dass gerade ein Vorgehen gegen diese Enklave wegen der dort stationierten Atomwaffen nicht möglich wäre. Nun, das Beispiel Kaliningrad sollte ja auch nur die Exponiertheit russischer Territorien beleuchten. Außerdem: nach der weiterhin gültigen NATO-Doktrin der flexible response müssten in den baltischen Staaten auch taktische Atomwaffen der NATO disloziert sein bzw. disloziert werden. So könnte ein russische Aggression gegen einen der baltischen Staaten auch dort auf taktische Atomwaffen stoßen. Das Risiko einer Eskalation durch diese Waffen, die also in beiden Fällen dem Aggressor „im Wege stehen“, spricht wiederum gegen die Voraussetzung all dieser Gedanken, nämlich die russische Aggression gegen das Baltikum.
3Ich las vor ein paar Tagen in einem ernsthaften Medium, das russische BIP betrage ein Zehntel des EU-BIP und ein Sechzehntel des US-BIP.
4 Falls manche Ideen hier gewagt erscheinen oder nicht bis ins Letzte durchdacht: Ich entwickle die Sachen hier quasi allein, ohne die großen Ressourcen eines Institutes oder eines Ministeriums.