In jeder Gesellschaft, in deren Teilorganisationen, in jeder historischen Zeit gibt es vorherrschende Meinungen, ich möchte sagen: Mode-Meinungen. Diese werden von den meisten Mitgliedern der gesellschaftlichen Organisationen geteilt und — in der Öffentlichkeit weiterverbreitet. Die Öffentlichkeit erfährt also über ein bestimmtes Thema, in dem diese Öffentlichkeit nicht sachkundig ist, nicht „Experte“ ist, Informationen von denjenigen, die das Thema im Rahmen ihres Berufes bearbeiten.
Dabei steigt das Vertrauen in diese Experten-Meinungen proportional zur Unwissenheit dieser Öffentlichkeit zu diesem Thema. Wer aus der breiten Öffentlichkeit würde etwas über Raumfahrt behaupten, wenn fast alle Astro- und Kosmonauten das Gegenteil versichern; wer würde über Beklemmungszustände reden, wenn es dazu die – fast einhelligen – Meinungen von Höhlenforschern gibt; wer einem Kranken etwas geben, von dem die „communis opinio“ (die allgemein verbreitete Meinung) aller Ärzte abrät???
Mit dem letzten Beispiel nähern wir uns schon dem Beruf, in dem es natürlich in diesem Blog geht: den Militärs. Ähnlich wie Ärzte sollen sie uns ja schützen, und haben dazu ein spezifisches Fach-Wissen. Wie aber eingangs beschrieben, herrschen auch unter Militärs Mode-Meinungen. Hinzu kommen gerade bei Militärs vier Faktoren, die Mode-Meinungen und damit Resistenz gegen alternative Meinungen fördern: die Kameradschaft, die dazu führt, gegen Außenstehende zusammenzuhalten; die Gewohnheit zur Geheimhaltung; das System von Befehl und Gehorsam – die Gehorsamen werden meist zuerst befördert; die Atmosphäre der Gefahr, in der sich dieser Beruf im Besonderen bewegt – Neues ist oft nicht erprobt, kann unter Gefahr nicht funktionieren, die Meinung des Gegen-Experten könnte auch Feigheit sein, gerade, wenn es um Abrüstung geht.
Um das Gesagte an einem Beispiel zu illustrieren:
Praktisch alle führenden französischen Militärs wollten den 2. Weltkrieg so führen, wie sie es aus dem 1. Weltkrieg abgeleitet hatten. Es gab nur ganz wenige, die zu denjenigen Schlussfolgerungen gelangt waren, zu denen auch ihre deutschen Gegner gelangt waren und die diese deutschen Gegner dann praktizieren sollten. Der bekannteste französische Gegen-Experte ist Charles de Gaulle. Er propagierte die Panzer als eigenständige Waffengattung und – siehe meinen Artikel über die Defensiv- und Offensivwaffen – den Kampf der verbundenen Waffen(gattungen). Die Militärs mit der Modemeinung saßen in den Schlüsselstellungen, sie lenkten die französische Armee im Jahre 1940, und: sie verloren krachend gegen die deutschen Konzeptionen, wie sie eben auch de Gaulle für Frankreich einzuführen versucht hatte.
Und um das Gesagte mit einer Autorität zu belegen, die Autorität nennt das Festhalten an alten Gewohnheiten, die blind von allen geteilt werden, „Methodismus“:
„Das Übel ist nur, dass eine solche, aus dem einzelnen Fall hervorgehende Manier sich selbst leicht überlebt, weil sie bleibt, während die Umstände sich unvermerkt ändern; das ist es was die Theorie durch eine lichte und verständige Kritik verhindern soll. Als im Jahre 1806 die preußischen Generale Prinz Louis bei Saalfeld, Tauentzien auf dem Dornberge bei Jena, Grawert vor und Rüchel hinter Kapellendorf, sämtlich mit der schiefen Schlachtordnung Friedrichs des Großen sich in den offenen Mund des Verderbens warfen, war es nicht bloß eine Manier, die sich überlebt hatte, sondern die entschiedenste Geistesarmut, zu der je der Methodismus geführt hat, womit sie es zustande brachten, die Hohnelohische Armee zugrunde zu richten, wie nie eine Armee auf dem Schlachtfelde selbst zugrunde gerichtet worden ist.„
(Clausewitz, Carl v: Vom Kriege. Hrsg. W. Hahlweg. Bonn (Dümmler Verlag) 1973 (18), S. 311 am Ende des Kapitels „Methodismus“; Fettdruck von mir, G.J.)
Für die Friedens-Führung haben wir es also mit einem gegen äußere Einflüsse sehr abgeschlossenen Personenkreis mit einer tendenziell festen Ideenwelt zu tun. Meinungen, die von dort in die Öffentlichkeit bewegt werden, können von dieser Öffentlichkeit leichter als bei anderen Berufen kritiklos hingenommen werden – vor allem, wenn alle Militärs sehr Ähnliches vertreten.
Der Wert der Gegen-Experten
Erst wenn aus dem gerade geschilderten geschlossenen Block jemand heraustritt, der eine andere Meinung vertritt, kann die Öffentlichkeit anfangen, rational über ein Sicherheitsproblem nachzudenken. Denn: Dieser ist ja auch Experte für Sicherheit, nur eben ein Gegen-Experte. Er ist Zeuge dafür, dass man auch anders denken kann.
Erst seine Argumente ermöglichen der Öffentlichkeit durch den Vergleich mit den Argumenten der Mode-Meinung ein Problem voll zu erfassen.
Ich meine, dass ich das Phänomen hier nicht weiter beschreiben muss, da es einleuchtend ist. Da man das Phänomen aber noch genauer beleuchten kann, werde ich in einem der folgenden Artikel einige Gegen-Experten als Beispiele für das Gesagte nennen und beschreiben.