Ein Sicherheits-„Experte“ und meine Kritik (26-6-22)


Die aktuelle Lage, die Aussichten, das Ziel – Ansichten eines „Experten“

Quelle: ntv, 25.5., 19.06 Uhr (Internet-Ausgabe)

Gustav Gresser, der „Sicherheits-Experte“ und Autor, ist lt. ntv „Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr“. Also wohl jemand, der Zugang zur aktuellen Diskussion unter westlichen Militärs hat.

Gressel konstatiert eingangs und am Ende des Artikels Mängel in Russland bei Munition für „Präzisionsabstandslenkwaffen“ und Ausfälle in kritischem Ausmaß bei Kampfpanzern, Schützenpanzern und Artillerie. So seien zwar theoretisch 10 000 Kampfpanzer im Besitz der russischen Armee, nur könnten wir uns wohl vorstellen, wie es wohl um die stehe, wenn man die dt. Probleme beim Reaktivieren von Leopard und Gepard kenne.

(Meine Ergänzungen: und falls die Befunde über Korruption und Schlendrian stimmen, kann man sich vorstellen, wie es in den Ersatzteillagern für die genannten Waffen aussieht. Gressel sagt übrigens hier nichts über den Zustand der Luftwaffe!)

Und da passt meine Frage: Wie sieht es angesichts dieses Zustandes der russischen Armee mit der Unterstützung des Westens für die Ukraine aus? (Der Artikel ist vom 25.5. – seitdem ist der Frontbogen um Sjewjerodonezk noch mehr gefährdet)

Zuerst einmal sieht man da wieder, lt. Gressel,  eine Schwäche Russlands: Seine Aufklärung sei schwach, deswegen kämen Waffenlieferungen aus dem Westen an. Es habe es aber geschafft die ukrainische Waffenindustrie weitgehend zu zerstören, da für deren Lokalisierung ja der Blick ins Telefonbuch gereicht habe.

Deshalb käme es jetzt auf die Waffen-Lieferungen aus dem Westen an.

Gressel sieht geringe Bereitschaft in F und D (hier ist es wieder, das „alte Europa“, das angesichts des Irakkrieges vom damaligen US-Kriegsminister Rumsfeld als zu bedenkenreich geschildert wurde), hohe Bereitschaft in GB und USA. Die USA bräuchten nach Irak und Afghanistan endlich eine Auseinandersetzung, in der man sich „moralisch wieder aufrichten“ könne. Gressel: „Die USA haben den Irak-Krieg bekanntlich auf der Basis von bewussten Fehlinformationen angefangen.“ Einzelne in den USA,  wie die New York Times, forderten aber schon eine Erklärung des Präsidenten zur „Grenze der Unterstützung der Ukraine“(Unterstreichung von mir, G.J.).

Gressel meint, dass die „Zögerlichkeit“ des dt. Bundeskanzlers durch den Zustand der SPD erklärbar ist, dass diese Zögerlichkeit Deutschland aber bei seine Verbündeten noch lange Kritik eintragen würde.

Aussichten abseits von Waffenlieferungen:

Falls sich Krieg bis in den Herbst hinein hinziehe (und Russland kein strategischer Durchbruch mit Besetzung des Landes gelinge, so meine Ergänzung) könnte die Ukraine im Herbst 700 000 bis 1 000 000 Soldaten unter Waffen haben, die „Mobilmachungsstärke“ Russlands betrüge 1 800 000 Soldaten. Diese reiche NICHT für den militärischen Sieg, würde aber wohl in der russischen Innenpolitik erstmals die Unterstützung für den Krieg gefährden, da dann jede Familie wisse, dass ihre Männer dorthin geschickt werden könnten.

Gressel:

„Dann kann die Ukraine ihr verlorenes Territorium zwar nicht zurückgewinnen, aber weitere Erfolge könnten sich die Russen nur unter horrenden Verlusten erkaufen. Ob Putin das wirklich macht? Ich weiß es nicht. Einen Weg, der zu einem sicheren Erfolg führt, gibt es für ihn jedenfalls nicht mehr.“ (Fettdruck von mir hinzugefügt, G.J.)

Abschluss-Statement von Gustav Gressel: „Meiner Ansicht nach wird Putin die Offensive so lange wie möglich fortsetzen, wahrscheinlich bis in den Spätsommer. Dann wird er schauen, ob er den Westen weichklopfen kann – ob er Fürsprecher im Westen gewinnen kann, um die Ukraine in einen sofortigen Waffenstillstand zu zwingen, bevor sie so mobil und schlagkräftig ist, erfolgreiche Gegenoffensiven durchzuführen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die USA da mitspielen werden, aus den genannten Gründen. Aber so in etwa dürfte das russische Kalkül aussehen.“

Ich meine:

Herr Gressel als „Experte“ gerät zum Ende in einen Widerspruch: einerseits sei Russland zum richtigen Sieg nicht mehr in der Lage, andererseits solle man Ukraine mit Waffen füttern – und Gressel sagt nicht, mit welchen Waffen in welcher Qualität.

Gressel hatte ja in mehreren Bereichen extreme Schwächen Russlands konstatiert und sieht sogar für die Ukraine die Möglichkeit zukünftig „erfolgreiche Gegenoffensiven“ zu führen, andererseits scheint er insbesondere den dt. Bundeskanzler zu kritisieren wegen der zögerlichen Waffenlieferungen, obwohl Gressel selbst ein durchaus egoistisches Interesse der USA  (!!!!siehe oben, G.J.) sieht Russland in einen langen europäischen Krieg zu verwickeln – natürlich um RU dauerhaft zu schwächen (so meine Ergänzung).

Der Standpunkt eines vernünftigen Kontinentaleuropäiers  müsste statt dessen aus dieser Analyse der Lage folgendes Vorgehen ableiten:

Die Politik auf Ebene der Diplomatie müsste Russland einen für seine Führung akzeptablen Weg anbieten, einen Weg, der auf der anderen Seite die Ukraine als souveränen Staat erhält. Einen Weg also zwischen den Polaritäten der „Unverletzbarkeit der Grenzen“ und dem  des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“.  Henry Kissinger, der diplomatische „Altmeister“, hat sich in Davos in der Richtung geäußert (Süddeutsche Zeitung vom 27.5. mit Kissingers Aufforderung Russland nicht zu demütigen). Auf alle Fälle müsste eine solche kontinentaleuropäische Position sich unabhängig machen von innenpolitischen Faktoren in den USA, die kriegstreibend wirken.

Die Politik auf Ebene des Militärischen würde die Ukraine in dieser Zeit mit Waffen versorgen, die diese quantitativ und qualitativ instand setzen, Russland einen Sieg zu verweigern, nicht aber, selbst den Krieg gewinnen zu können. Welche Waffen hierfür nötig wären, zeigen die bisherigen ukrainischen Abwehr-Erfolge; Und da Gressel – wie oben gesagt – über die Art der zu liefernden Waffen schweigt: den Unterschied zwischen Defensiv- und Offensiv-Waffen habe ich in einem anderen Artikel auf „Frieden-führen.info“ beschrieben.

(Dies ist nur eine operative Sicht auf den weiteren Kurs IM Krieg; die viel größeren politischen Fragen um den Friedens-Vertrag und den nachfolgenden Friedens-Zzustand NACH dem Krieg habe ich in einem der letzten Artikel umrissen: Friedensziele beeinflussen Kriegshandlungen)


Autor dieses Artikels ist:

G. Jankowiak

Sodinger Str. 60

44623 Herne