Ich möchte mit Jean Jaures über den Rand der Krise hinausschauen!
Die Person
Jean Jaurès war vor dem 1. Weltkrieg einer der Präsidenten der SFIO (Sèction francaise de L’internationale Ouvrière – Französische Sektion der Arbeiterinternationalen) und in der Friedensfrage sehr engagiert. International war er damals ungefähr so bekannt wie
August Bebel, der ja von 1869-1913(!!!!!!!!) Vorsitzender der damals noch weitgehend revolutionären SPD war. Jaurès selbst wurde wegen dieses Einsatzes für Frieden von einem französischen Nationalisten am letzten Tag des Juli 1914 in einem Café erschossen – also am Tag vor (vereinfacht) Kriegsbeginn.
In Frankreich ist Jaurès heute noch präsent; präsenter, so scheint mir, als sein deutscher Vergleichspartner August Bebel. Ich selbst habe in Dole (Burgund) an prominenter Stelle direkt zwischen Hafen und Sportkomplex eine Denkmal für ihn mehrfach besucht, welches immer gut instand gehalten und mit Blumen geschmückt war.
Das Problem
Das Hauptproblem für Jaurès (und Bebel) all die Jahre vor 1914 war der Status von Elsaß-Lothringen. Ich erinnere daran, dass die beiden Provinzen, die sich zu Frankreich gehörig fühlten, 1871 nach dem preußisch-deutschen Sieg über Frankreich durch die dt. Führung geraubt und als „Reichslande“ minderen Rechts dem neu gegründeten Reich einverleibt wurden.

Dies war der Hauptgrund des „Revanche“-Gedankens auf Seiten Frankreichs; sichtbares und fühlbares Symbol dieses Rache-Gedankens war neben einer riesigen Propagandamaschine das bewusste Freilassen der Sitze von Elsaß-Lothringens Abgeordneten in der Nationalversammlung. Auch außenpolitisch führte dieser Rachegedanke später zum völlig unnatürlichen Bündnis zwischen Frankreich und Russland: Russland als die reaktionärste (und am meisten antisemitische) Monarchie Europas – Frankreich Erbe einer Revolution, in der der Monarch und seine Frau unter der Guillotine geköpft worden waren. Der Raub von Elsaß-Lothringen war für alle Nationalisten in Frankreich das Hauptargument sich einer Verständigung mit Deutschland entgegenzustellen und – vor allem – ihr eigenes Land mit der Vorbereitung des Revanchekrieges zu militarisieren.
Für die Sozialisten war genau dies das Problem: immer konnte man sie der „vaterlandslosen“ Gesinnung verdächtigen, um ihr Wachstum zu stoppen und die nationale gegen die soziale Frage auszuspielen.
Jaurès Idee
Grundlage der Idee war der Gedanke, dass der Streit um Provinzen nicht dazu führen dürfte, dass sich zwei Völker bis zur Vernichtung gegenseitig an die Gurgel gehen. Wem das jetzt zu wenig konkret ist:
Der Verlauf des 1. Weltkrieges bestätigt genau dieses gegenseitige Vernichten und die Inkaufnahme von Millionen Toten. Die Zeit nach dem Krieg war erfüllt von den Bestimmungen des Vertrages von Versailles (u.a. ging Elsaß-Lothringen an Frankreich zurück); dieser Vertrag gab nun den deutschen Nationalisten und Faschisten das Argument in die Hand, um gegen Demokratie, Völkerverständigung zu hetzen und – gerade einmal knapp 15 Jahre nach Versailles – die Aufrüstung Deutschlands unter Hitler massiv voranzutreiben. Mit diesem militarisierten Deutschland gelang dann 1940 der überraschend schnelle Sieg über Frankreich.
Übrigens: 1940 wurde Elsaß-Lothringen dann wieder von Nazi-Deutschland geklaut.
Wer sich DIESE Folgen eines Fehlers von 1871 vor Augen führt, dem ist es jetzt vielleicht nicht mehr zu unkonkret über Alternativen zu Kriegen nachzudenken.
Jaurès meinte, Frankreich solle nicht den Weg der Gewalt (mit der inneren Militarisierung) gehen, um das an sich legitime Ziel der Befreiung Elsaß-Lothringens zu erreichen. Er präsentierte eine Idee, die in verwandelter Gestalt erst nach 1945 in Ansätzen verstanden und etwa mit der Montanunion z.T. verwirklicht wurde.
Die Idee ist: Wenn es um ein solches Streitobjekt geht, bei dem niemand nachgeben will und lieber ganze Jahrgänge auf den Schlachtfeldern geopfert werden, so solle das Streitobjekt, also hier zwei Provinzen, internationalisiert werden
Ja, man kann sich vorstellen, wie damals – und heute – die Nationalisten beider Seiten mit ihren jeweiligen Argumenten Zeter und Mordio schrien: ‚Aufgabe urdeutschen Bodens‘, ‚dafür haben unsere Soldaten 1871 geblutet‘ vs. ‚Legitimation des Raubs‘ ‚Aufweichung des Völkerrechts‘ usw. usw.
Nun, eine solche Internationalisierung hängt natürlich stark von den jeweiligen Detaillösungen ab und den Garantiemächten für eine solche Regelung – mir scheint, eine sehr weitgehende Demokratisierung und Selbstbestimmung der Bewohner der betroffenen Provinzen könnte viel Streit um Verwaltungsprobleme vermeiden und den zwei „Besitzern“ der Provinzen erlauben beidseitig auf Souveränität zu verzichten .
Und bei Jaurès war diese Internationalisierung Elsaß-Lothringens ein Element im Gesamtkonzept der „Vereinigten Staaten Europas“. (seine letzte Position zur Lösung dieser Frage bei: Jean- Pierre Rioux, Jean Jaurès. Edition Perrin 2008 (ohne Ort), S. 260. Dort ist auch die folgende Originalstelle von Jaurès entnommen).
Jaures im Original

(eigenes Foto von einem Plakat zu Jaures, gefunden in Frankreich 2015, Ort nicht mehr erinnerlich)
„Auf welche Art auch immer das Problem von Elsaß-Lothringen gelöst werden mag im Laufe von Generationen:
(etwa) indem Elsaß-Lothringen, auf dem Wege einer Rückkehr, die frei und im Konsens erfolgt, eben diese Rückkehr zu Frankreich bewerkstelligt oder dass es im politischen Rahmen der deutschen Organisation eine sehr weitgehende Autonomie bekommt, die es ihm erlaubt alle traditionellen Kräfte seiner Kultur, alle Energien seines eigenen Geistes und alle Sympathien seines Bewusstseins zu entwickeln und zu harmonisieren;
oder dass es am rechtlichen und nationalen Leben zweier großer Völker teilnimmt, wie die Bürger der latinischen Bundes, die in mehreren Städten, in mehreren Staaten des Bundes das Bürgerrecht hatten (was von Mommsen so meisterhaft beschrieben wurde);
Oder weiter: dass es eines Tages seine klar erkennbare Vertretung, seine gesetzgeberische Autonomie in diesem großartigen europäischen Parlament hat, dessen Idee von unserem genialen Saint-Simon vor fast einem Jahrhundert skizziert wurde;
Oder was auch immer letztendlich die unbekannte Formel sein mag, die alle nationalen Rechte und alle historischen Kräfte im großen Frieden der Welt, in der großen Freundschaft der Völker anerkennen und harmonisieren wird ———— es ist nur durch den Frieden, und durch den ……………. Frieden, dass eine Lösung vorbereitet werden kann.(…)
Die Schwierigkeiten, die Frankreich von Deutschland trennen, können nur dann eines Tages eine gerechte und tief(greifende) Lösung erfahren, wenn Frankreich und Deutschland sich jetzt schon annähern zur Erreichung eines höheren zivilisatorischen Ziels, als ob diese Schwierigkeiten (schon) geregelt wären. Weit entfernt davon, dass das eine Abkehr von (nationalen) Erinnerungen und eine Zurückweisung des (Völker)Rechts wäre – es ist ein Akt des Glaubens an die Kraft des Rechts.“
Friedensführung:
Es handelt sich bei diesen sehr differenzierten Ideen also nicht um unpraktische Spinnereien von Ökopaxen, sondern um ordentlich angedachte Ansätze. Schwierigkeiten werden nicht geleugnet, werden aber als ein geringeres Übel angesehen als der ach so einfache, altgewohnte Weg des gegenseitigen Draufschlagens.
Europa war schon nach dem Ersten Weltkrieg kaum noch wiederzuerkennen; nach dem Zweiten lag es noch stärker in Trümmern; nach dem Dritten würde nichts von ihm übrigbleiben.
P.S: Die ab 1948/49 ungewöhnlich schnelle Erholung nach dem 2. Weltkrieg ist ganz besonderen, einmaligen Bedingungen geschuldet. Der Normalfall nach solchen Kriegen ist die Agonie und das Aufleben von Extremismen, wie es nach 1918 zu beobachten ist.