Viel zu spät reagiere ich hier auf den gewaltsamen Einmarsch der Truppen Aserbaidjans nach Nagorny-Karabach („nagorny“ heißt so viel wie „bergig“, also Berg-Karabach). Aber gemessen an den TV-Medien, die ich Abends des Überblicks wegen schaue, verhalte ich mich trotz Verspätung viel aktiver als diese (und auch einige Printmedien).
Was ist los?
Dort, in Nagorny-Karabach, passiert gerade eine „ethnische Säuberung“!!!
Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Vertreibung einer Population aus den Siedlungsgebieten, in denen diese schon seit Generationen siedelt, die sie gestaltet hat und in dem die Friedhöfe ihrer Angehörigen liegen. Überall, wo Menschen siedeln, verwandeln sie ja Natur in Kultur. Hier wird gerade ein gewachsene Kultur vernichtet.
Solch ethnische Säuberungen können als Diktat von einem Volk zum anderen geschehen oder als irgendwie gestaltete Kompromiss-Lösung zwischen zwei Völkern. Beispiel für letzteres ist der Bevölkerungsaustausch nach Gewaltorgien zwischen der neugegründeten Türkei und Griechenland 1923. Da diese Form auf einem Kompromiss gründet, könnte man statt von Säuberung von Bevölkerungs-Ausgleich sprechen, mit mehr oder weniger individueller Gewalt verbunden.
Meist passieren diese Säuberungen oder Ausgleiche, wenn eine multiethnische/multinationale Herrschaft zusammenbricht; während dieser Herrschaft, meist dynastischer Art, war die Ethnie eine nachgeordnete Größe, es gab also bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum Probleme.
Seit dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches, des Osmanischen Reiches, des Zaren- und später Sowjetreiches tauchen natürlich ethnische Konflikte auf, etwa um solche zerstreuten Siedlungsgebiete wie Nagorny-Karabach, und als Folge von diesen dann auch ethnische Säuberungen oder eben Ausgleiche.
Im Sinne der Friedens-Führung kann bei entsprechend aufgeheizter Atmosphäre zwischen zwei Ethnien sogar eine saubere Trennung von deren Siedlungsgebieten sinnvoll sein. Das setzt aber ein Verfahren voraus, das zum mindesten einige Züge eines Ausgleiches im oben beschriebenen Sinne trägt.
Dies fehlt hier bei den jetzigen Vorgängen!
Ich übergehe jetzt die groben, wohl bekannten Daten zum fraglichen Gebiet, etwa, dass in Nagorny-K. ethnische Armenier leben und dass Armenier einem christlichen Ritus folgen; etwa, dass Aserbaidjan auch kein geschlossenes Siedlungsgebiet hat, sondern auch einen „Bevölkerungssplitter“ südwestlich Armenien, und dass die Aserbaidjaner der sunnitischen Form der islamischen Religion folgen.
Ich will vielmehr die Besonderheit dieses Falles hier im Vergleich zu anderen ethnischen Säuberungen oder Ausgleichen kurz hervorheben!
Unser „Westen“ schreit ja sonst auf, wenn etwas Ähnliches irgendwo zu passieren scheint: Nepal, die Uiguren, die Kosovo-Albaner, die Krim-Tataren. Hier jedoch hört man fast keinen Protest aus dem „Westen“.
Warum?
Rein rational kann man die ausbleibende Reaktion ja nicht verstehen, denn es handelt sich offensichtlich um eine gewaltsame ethnische Säuberung. Außerdem ist ja eine Volksgruppe betroffen, die – wie gesagt – der christlichen Religion angehört, während die staatliche Gewalt vom muslimisch geprägten Aserbaidjan ausgeht. Und der „Westen“ hat ja bisher nicht öffentlich verneint, eher der christlichen Religion anzugehören.
Rein rational müsste die ethnische Säuberung eines armenischen Bevölkerungsteils auch auf dem Hintergrund der in den letzten 20 Jahren sehr stürmisch diskutierten Gewalttaten gegen Armenier während des Ersten Massenvernichtungskrieges (Weltkrieges) gesehen werden: wieder geschieht hier unter dem Beifall der sunnitischen Führung der Türkei eine Gewalttat an den Angehörigen des gleichen Volkes.
Ich meine also, dass das rational kaum verständliche Schweigen „unserer“ Staaten, die ja so massiv die Ukraine und die Krim-Tataren verteidigt bzw. sie befreien will, andere Gründe haben muss.
Falls man rational sucht, kommt man etwa auf folgende:
– Für den Kampf gegen Russland braucht man den Zusammenhalt der NATO; die Türkei ist Teil dieser NATO. Also kann man nicht vehement gegen das Placet der türkischen Führung für den aserbaidjanischen Einfall protestieren.
– Aserbaidjan hat Bodenschätze – Armenien nicht. Der Zusammenhang mit dem Boykott russischer Bodenschätze scheint zu bestehen.
– Russland war ja bisher eine Schutzmacht der christlichen Armenier – dies auch schon seit der Zarenzeit (ein Hintergrund der Gewalt im 1. Massenvernichtungskrieg). Nun schützt Russland diese nicht mehr, vermutlich, weil es sich im Wirtschafts- und Rüstungskrieg mit der NATO und im tatsächlichen Krieg mit der Ukraine befindet. Für den „Westen“ ist diese Schwäche Russlands natürlich eine Gelegenheit, die russische Führung vorzuführen, deren Prestige weiter zu mindern.
– Auch Iran kann man unter Druck setzten! Ich sprach oben schon von der aserbaidjanisch-turkvölkischen Enklave Nachitschewan im Südwesten der armenischen Grenze. Es gibt Bestrebungen in Aserbaidjan und wohl auch in der Türkei, diese Enklave mit dem Staat Aserbaidjan zu verbinden, also eine Landverbindung zu schaffen. Man spricht da vom Sangesur-Korridor. (Korridore sind immer schon konfliktfördernd gewesen!). Nach Analyse einer von mir gelesenen Zeitung sieht die Führung in Iran (schiitisch) Machtverschiebungen zugunsten der sunnitischen Staaten Türkei und Aserbaidjan (und einen Pan-Turkismus im Allgemeinen) als Bedrohung für sich selbst. Also hätte der „Westen“ mit der Hinnahme der türkisch-aserbaidschanischen Aggression der ungeliebten Führung in Teheran einen weiteren Konflikt beschert.
Fazit bzgl. der „westlichen“ Politik:
Kurzsichtig und kurzfristig mag ja die Stärkung des NATO-Partners Türkei und die Schwächung Russlands wie ein „Sieg“ aussehen. Mittel- und langfristig dürfte der Sieg in einer Destabilisierung der Kaukasus-Region über Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisistan und Usbekistan bis nach Kasachstan im Norden und Afghanistan im Süden enden – mit den entsprechenden negativen Folgen für eben diesen Westen. Die Islamisten freuen sich – genau so wie über den Ukraine-Krieg der beiden „christlichen“ Mächte.
Und: Wer Menschenrechte und Moral jeweils nur nach dem kurzfristig Nützlichen propagiert, dem glaubt man schon jetzt nicht mehr. Iustitia est fundamentum regnorum!
Irak und Libyen lassen grüßen!