Polyphonie als Methode? (13-7-23)


Wenn man den Medien eher passiv folgt, so ist man hin und her geworfen!

Innerhalb einer Woche fallen z.B. in den USA zwei Entscheidungen, die auf den ersten Blick eher gegensätzlich anmuten: – Da wird entschieden der Ukraine Streumunition zu liefern – also etwas, was wohl viele als weitere Eskalation empfinden. – Am Ende derselben Woche hört man dann, dass dieselben USA gegen eine Aufnahme der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt sind – also doch wohl etwas, was nach Deeskalation aussieht!?

Etwas weiter zeitlich zurück zu den Verbündeten der USA: Da begann die Diskussion um F 16-Kampf-Flugzeuge und der besorgte EU-Bürger erschreckte: War das nicht bis vor Kurzem noch eine dieser „Roten Linien“? Davor war ja noch eine „Rote Linie“, dass man keine Kampf-Panzer liefern dürfe. Nun, die Diskussion drehte und wand sich endlos, bis niemand mehr davon hören wollte, und zwar in beiden Fällen: bei den Kampf-Panzern und bei den Kampf-Flugzeugen. Jetzt bei den F 16 konnten der deutsche Bundeskanzler und sein Militärminister sofort auftreten und versichern – mit treuherzigem Augenaufschlag – dass man solche Flugzeuge gar nicht besitze und dass die Diskussion einen ja gar nicht betreffe.

Nachfrage, Herr Bundeskanzler:

Engste Verbündete innerhalb des gemeinsamen Bündnisses liefern doch!!! Und da gibt es keine Abstimmung???

Die deutsche Regierung

Und dieselbe Regierung Deutschlands, die ja bei der F 16 „raus“ war, musste sich natürlich aus Anlass des NATO-Gipfels in Vilnius als „verlässlich“ zeigen: 700 Millionen zusätzlich für Munition. Ein Schelm, der jetzt anfängt zu vermuten, dass bestimmt Teile der 700 Millionen der Ukraine für den Ankauf der Streumunition aus den USA dienen werden. Aber wiederum: diese deutsche Regierung wirkt doch gerade de-eskalierend gegen die Versuche einiger NATO-Staaten, die Ukraine jetzt schon (!!!) oder doch sehr bald, irgendwie, in die NATO aufzunehmen, oder?

Man sieht also an diesem Beispiel der deutschen Regierung, dass dort wie bei den USA auch innerhalb einer kurzen Zeit zwei tendenziell unterschiedliche Entscheidungen getroffen werden.

Und wieder: da gab es vor dem Vilnius-Gipfel keine Abstimmung im Bündnis? Vielleicht doch eine Art Aufgabenverteilung? Eine Regie?

Die britische Regierung

Und weiter: da sagte doch GB vor gut zwei Wochen die Lieferung von uran-angereicherter Munition zu. Nun, bei der abenteuerlichen Führung dieses Landes fehlte sogar das de-eskalierende Pendant —- die eskalieren nur! (Passend dazu die Mitteilung in der Zeitung WAZ, etwa 5.7.’23, 1. Seite, dass wegen der Sparmaßnahmen der früheren Cameron-REgierung bestimmte Kinder in GB im Wachstum zurückgeblieben sind.) Jedenfalls: Die anderen Bündnispartner konnten treuherzig versichern, dass sie natürlich so was nicht liefern würden.

Und da muss sich so eine Regierung nicht mit dem Bündnis abstimmen, wenn sie solch eine klar eskalierende Entscheidung trifft???

Und noch ein Beispiel – die französische Regierung

Gestern Abend (11-7-23) sagte Macron in den ZDF-Heute-Nachrichten, dass Frankreich jetzt doch Raketen liefern wolle, und zwar welche, die „profondeur“ erreichen. Im ZDF versteht man wohl keine Französisch, jedenfalls wurden diese dann zu „Langstreckenraketen“, von denen die Reichweite im gleichen Beitrag mit 300 km angegeben wurde – auch eine Art Polyphonie. Ich vermute (ohne größere Recherche meinerseits), dass Macron entweder Marschflugkörper meint oder die Raketen, die bis 1989 auf West-Deutschland zielten, für den Fall eines sowjetischen Durchbruchs. Damals waren die atomar bestückt, natürlich wären sie heute konventionell …

Und das hat der Macron mal eben so als Gast-Geschenk mitgebracht nach Litauen? Ohne vorherige Absprache? Muss der das nicht absprechen, da auch dies wieder eskalierend wirken wird???

Es erhebt sich die Frage, ob all diese Gegenläufigkeiten seitens eines Landes oder ob die scheinbaren Unkoordiniertheiten zwischen den Bündnismitgliedern einfach mal so passieren, weil niemand koordiniert. Das würde zu Macrons damaligem Befund passen, NATO sei „gehirntod“.

Es sei mir aber erlaubt, auf das genaue Gegenteil zu tippen: All diese Dinge, die ja eigentlich nicht zueinander passen, sind Teil einer mehr oder weniger abgestimmten Taktik, oder – zur Überschrift passend – einer Choreographie, also in diesem Falle einer polyphonen Choreographie.

Polyphonie heißt ja etwa „Vielstimmigkeit“. Und das kommt bestimmt heutzutage bei den Mainstream-Leuten gut an, hört sich an wie „Vielfalt“, „Diversität“, daran ist man aus ganz vielen Lebensbereichen mittlerweile gewöhnt.

Warum diese Choreographie des Bündnisses:

Es soll für die Bevölkerung dieser nun 32 NATO-Staaten keine Gesamt-Strategie erkennbar sein!

Jede Bevölkerung soll sich damit beruhigen können, dass der eigene Staat ja immerhin auch de-eskalierende Signale sendet!

Jede Bevölkerung soll sich weiter damit beruhigen, dass ja nur ein anderes Mitglied des Bündnisses vorprescht, nicht das eigene Land!

Es herrscht: Eine Polyphonie von anscheinend widersprüchlichen Signalen.

  • Polyphonie in der Außenpolitik?

Nun, eine solche Polyphonie mag ja im Privaten oder bei Dingen der Mode ganz nett sein. Spätestens aber bei privaten Beziehungen schon dürfte „Vielstimmigkeit“ Probleme bereiten, da hat man doch lieber „Eindeutigkeit“ und „Berechenbarkeit“, oder?

Umso mehr dürfte Polyphonie kontraproduktiv sein in dem Bereich, wo sowieso Berechnung und Misstrauen einen großen Platz einnehmen, also im Verhältnis der Staaten. Wenn man da nicht „berechenbar“ ist, muss der Gegner immer mit Misstrauen reagieren und sich auf den „worst case“ vorbereiten. Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, dass man diese Taktik der Durcheinanders gegenüber den BRICS-Staaten außer Russland als harmlos darstellen kann. Und schon gar nicht gegenüber Russland, dem „Opfer“ dieser Taktik.

Polyphonie als Taktik von NATO gegenüber Russland?

Auch wenn die Polyphonie-Taktik von NATO gegenüber den eigenen Bevölkerung wirken sollte, so kann man doch nicht erwarten, dass sich Russland so einlullen lässt. Dass dort nicht zusammengerechnet wird, was da die einzelnen Mitglieder von NATO so anscheinend separat und widersprüchlich beschließen. Dass dort nicht mit dem „worst case“ gerechnet wird. Dass die beruhigende Nachricht, Deutschland und die USA hätten gegen einen schnellen Beitritt der Ukraine votiert, auch in Moskau beruhigend wirkt. In Moskau, das ja die sich drehende und windende Diskussion mindestens seit 2008 kennt.

Denn: diese gewundene Diskussion um das eigentlich Unsagbare, um die letzte „Roten Linie“, die ist ja spätestens jetzt eröffnet, und sie wird sich weiter so entwickeln wie bei der Diskussion um die Kampf-Panzer und die Kampf-Flugzeuge. Und natürlich mit demselben Ergebnis, dem Beitrittsbeschluss, und denselben Zwischen-Stadien: totale Übersättigung der Bevölkerung(en), Gleichgültigkeit, Passivität.

Also keine Gegenwehr mehr auf dem abschüssigen Pfad zum letzten Stadium der Konfrontation mit dem Einsatz der letzten (!!!!) noch übrigen Waffengattungen?

Denkt an Kennedys Warnung, dass man gerade den atomar bewaffneten Gegner nicht endlos demütigen darf! (Rede vom 10. Juni 63)

Fazit für die Friedensführung

Bei einzelnen taktischen Fragen mag sich ja die Diplomatie an einem Instrument wie der hier beschriebenen Polyphonie ergötzen. Auch bei einzelnen Stadien von Friedensverhandlungen mag das auch einmal nötig sein.

Aber: Als Gesamthaltung des größten Staaten-Bündnisses der Welt ist Polyphonie eskalierend, weil sie den worst-case Berechnungen der Gegenseite Tür und Tor öffnet.

Postscriptum:

Nicht geschildert wurde in diesem Artikel, dass in den Mainstream-Nachrichten immer nur von den Aufrüstungs-Beiträgen eines einzelnen Landes die Rede ist, also etwa der Vergrößerung der Bundeswehr auf 203 000 Mann/Frau. Ich habe noch nie erlebt, dass im Rahmen einer solchen Meldung die Vergrößerung der Armeen der 32 Nato-Staaten addiert und präsentiert wäre.

Denn: Die diesbezüglichen Anstrengungen eines Bündnis-Landes sind gleichsam nichtssagend, wenn man nicht die Gesamt-Anstrengungen aller Bündner ermessen kann. Die oben genannte Vergrößerung des Mannschaftsbestandes der Bundeswehr würde allein schon dann in einem anderen Licht erscheinen, wenn der Medienkonsument erführe, dass Polen sich rüstet die stärkste Armee in Europa zu schaffen.