Exkurs zur tieferen Bedeutung der schlechten Ausrüstung der russischen Soldaten (ursprünglich Januar 23 als Teil eines Artikels)


Ich stand bisher noch unter dem Eindruck, dass eine autoritäre Führung, die auch die Gesellschaft umfassend militarisiert, notwendig auch auf ein entsprechendes hohes Niveau der Ausrüstung dieser Armee achten würde. Der in Moskau vermittelte Eindruck ist der einer „schimmernden Wehr“.

Insofern hat mich die Information General Freudings von oben zur schlechten Ausrüstung der Russen zuerst einmal gewundert, da ja die schlechte Ausrüstung im Einzelnen ein Widerspruch zu der glänzenden Fassade ist. Dann aber ließ mich gerade dieser Widerspruch an ein historisches Beispiel denken. Ich will das kurz schildern im Sinne einer historischen Analogie, die ja meist den Sinn hat, das Bewusstsein für mögliche Charakteristika der Gegenwart zu schärfen.

Ich denke an das historische Beispiel des 2. Kaiserreiches in Frankreich. Äußerlich betrachtet eine reine Erfolgsgeschichte, man denke nur an die Neugestaltung von Paris und die großen Erfolge der französisch-kaiserlichen Armee in Nordafrika, im Krimkrieg und im Krieg gegen Österreich (Schlacht bei Solferino). Eine überall glänzende Fassade. Diese Armee geht 1870 siegessicher in den neuen Krieg, sie baut auf ihre unter Beweis gestellte Kriegserfahrung, auch auf die – zum Teil – besseren Waffen, wie das Chassepot-Gewehr und „Neuheiten“ wie die Mitrailleuse (da kommt mir wieder der Gedanke an das russische Geprotze mit den Überschall-Waffen).

Nur:

Dieselbe Armee ist im deutsch-französischen Krieg schon nach gut 2 Wochen in einer Position, die fast zwangsläufig zu den Katastrophen von Metz, Gravelotte/Saint-Privat und Sedan führt. In gut EINEM Monat ist von dieser kaiserlichen Armee nichts Kampfkräftiges mehr übrig. Das Kaiserreich wird gestürzt.

Was war da passiert? Die Armee ging mit einer schlechten Ausrüstung und Dislozierung in den Kampf. Grund für beides war eine allgemeine Verwaltung und eine Militärverwaltung/Intendantur, die durch Korruption gezeichnet war. Und zwar eine Korruption, die dazu führte, dass viele Einheiten ohne die Ausrüstung den Preußen entgegen zogen, die für die Erfüllung ihres jeweiligen Auftrages nötig war.

Friedrich Engels schreibt damals seine Artikelreihe zum deutsch-französischen Krieg. Im 4. Brief heißt es:

„Er (der frz. Hauptmann Jeannerod) stellt ausdrücklich fest, daß die Verteilung des Feldzugsproviants erst am 1. August begann, daß die Truppen nicht genügend Feldflaschen,

Kochgeschirr und andere Lagerutensilien hatten, das Fleisch verdorben und das Brot oft muffig war. Man wird wahrscheinlich sagen, die Armee des Zweiten Kaiserreiches ist bis jetzt von dem Zweiten Kaiserreich selbst geschlagen worden. Von einem Regime, das seine Stützen durch alle althergebrachten Mittel der Geschäftemacherei korrumpieren muß, kann nicht erwartet werden, daß es damit vor der Armeeverwaltung haltmacht. Dieser Krieg war nach dem Geständnis von Herrn Rouher seit langer Zeit vorbereitet; der Anschaffung von Vorräten, besonders von Ausrüstungsgegenständen, war augenscheinlich bei der Vorbereitung die wenigste Aufmerksamkeit geschenkt worden.“ Marx-Engels-Werke, Bd. 17, Berlin (Ost) 1979, S.23

Kann es sein, dass unter der glänzenden Fassade des Putinismus ein ähnlicher Schlendrian und eine ähnliche Korruption dazu führen, dass z.B. die Winterausrüstung mangelhaft ist? Es ist nicht unwahrscheinlich:

  • Die Einmannherrschaft ohne jede Kontrolle dessen, der angeblich alles kontrolliert;
  • Das Oligarchentum, also eine Fortsetzung der Einmannherrschaft im Ökonomischen;
  • Die alte sowjetische Sitte der Tonnagegläubigkeit, die auf die zu liefernde Menge schaut, aber nicht auf deren Qualität. So könnte ich mir vorstellen, dass von einem Rüstungsgut zwar viel an die Front geliefert wird, dort aber nicht funktioniert.
  • Die Tradition der „potemkinschen Dörfer“, also des Aufbaus glänzender Fassaden für den Fall, dass der Zar, der ja bekanntlich weit ist, doch einmal vorbei kommen sollte. So könnte ich mir vorstellen, dass man bei einer Inspektion zwar eine berstend gefülltes Lager an Kleidung vorführte, bei dem aber nur die ersten Regale gute Qualität enthielten, während im hinteren Teil diejenigen Stücke lagen, die wegen mangelnder stetiger Kontrolle schon mal Opfer von Motten oder Mäusen gewesen waren. Wenn dann aber plötzlich große Mengen Kleidung geliefert werden sollen, etwa für die 1. Teilmobilmachung …

Man könnte also von den Auswirkungen auf deren Gründe schließen, auf die innere Verfasstheit Russlands, auch wenn die Geheimhaltung eines solchen autoritären Staates die Sichtbarkeit der Mängel verhindert, bis die Armee und ihre Ausrüstung sichtbar werden, und zwar besonders bei ihren Rückzügen.