Proliferation und mentale Eskalation
Gerade lese ich eine alte Nachricht aus den „Briefings“ der Neuen Züricher Zeitung(NZZ) vom 25.3.23: Es sind auf ukrainischer Seite schweizer (!!!!)Panzerfahrzeuge des Typs „Eagle“ aufgetaucht, die auf verschlungenen Wegen in die Ostukraine gelangt sind. Eines davon soll jetzt beim „Rechten Sektor gelandet (sein), einer rechtsextremen, ukrainischen Organisation“ (Zitat aus der NZZ, nicht von mir.)
Das Beispiel zeigt zwei Entwicklungen:
- Friedensforscher hatten schon zu Anfang des Krieges gewarnt, dass die Proliferation (Ausbreitung/Verbreitung/Weiterlieferung) von Waffen jedweder Art durch den Krieg gefördert würde. Das Auftauchen der „Eagles“ belegt dies als ein Beispiel. Lt. obigem Briefing sind die Eagles 4 Stationen durchlaufen!!! Vermutlich sind alle Waffenhändler der Welt jetzt hier im Einsatz – mit entsprechenden Konsequenzen für die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten und für die Friedenschancen.
- Auch die konservative NZZ nennt also jetzt mindestens eine weitere „rechtsextreme“ Organisation auf ukrainischer Seite – neben der bekannten Azow-Einheit. Hier zeigt sich auf Seiten der Ukraine die Entstehung von immer fanatischeren Einheiten, hinter denen dann wohl auch Politiker solchen Schlages stehen. Über Politiker, die Selenskyj weit rechts überholen, wurde ja schon öfter berichtet. Bei Fortdauer des Krieges dürften diese Kräfte stärker werden, eventuell Selenskyj ersetzen oder ihn instrumentalisieren. — Ähnliches scheint auf russischer Seite zu passieren oder ist schon passiert: Beim Begräbnis dieses „Militärbloggers“, der ja selbst eine viel extremere Kriegführung forderte, tauchte ja auch der Chef/Kommandeur der „Wagner“-Leute auf. Auch wurde über Medien berichtet, die den getöteten Blogger sehr lobten, und damit indirekt die staatliche Militärführung und damit indirekt Putin selbst kritisierten. All dies ein Zeichen dafür, dass auch in Russland viel aggressivere Politiker und Militärs bereit stehen.
Fazit:
Es ist auch aus diesen Tendenzen heraus absolut notwendig, dass all diejenigen auf beiden Seiten von hier unterstützt werden, die nicht weiter eskalieren wollen. Erfolgreich sein kann dies nur, wenn noch vor dem Herbst Verhandlungen stattfinden und akzeptable Verhandlungsergebnisse erreicht werden.
Presseschelte und die Stärke der Abwehr
Was man so nebenbei erlebt!!! Da tauchte beim Einschalten des Handys ein Artikel aus dem „Merkur“ auf, vom 12.4.23, geschrieben von einem Patrick Mayer: „’Panzerjäger‘ gegen ‚Leos‘: Putins Armee setzt jetzt auf Taktik aus dem Zweiten Weltkrieg“.
Der Artikel vereint Unverstandenes seitens des Autors mit doch interessanten Tendenzen, auf die wir schon früher aufmerksam gemacht hatten.
Zuerst das Unverstandene: Der Autor nennt zuerst alle West-Panzer, die die Ukraine jetzt oder bald bekommen soll. Dann informiert er, dass ein Jewgeni Arifulin, der ein „militärisches Ausbildungszentrum“ in RU leitet, die dortigen Schüler an „schultergestützten Lenkflugkörper-Panzerfäusten und Aufklärungsdrohnen“ ausbildet zu „Panzerkiller(n)“ und „Panzerjäger(n)“, auf Befehl des stellvertretenden russischen Militärministers/Verteidigungsministers. Die Aufmerksamkeit des Autors hat wohl der Begriff „Panzerjäger“ erregt. Denn er formuliert weiter: „Panzerjäger? Es ist eine Taktik(falscher Begriff, G.J.), die schon im zweiten Weltkrieg (s. die Überschrift!, G.J.) bemüht wurde. Spätestens (sic, es fehlt das Komma, G.J.) als sich 1943 und 1944 die großen Panzerschlachten … abspielten, … waren dies Abwandlungen der Kampfpanzer IV, ‚Tiger‘ und ‚Panther‘ (‚Hetzer‘, ‚Jagdtiger‘ oder ‚Jagdpanther‘).“
Nun, was hat der Autor nicht verstanden?
Dass die von ihm genannten Panzerkampfwagen eben das Gegenteil darstellen von den Verbänden, deren Formierung er jetzt in Russland erkennt. Er bringt dies selber zur Sprache, als er fortfährt:
„Gegenwärtig sollen sich, so offenbar die Vorstellungen des Kreml, kleine Infanterie-Truppen mit Panzerabwehrwaffen den modernen westlichen Panzern entgegenstellen. Mit dieser Strategie (falscher Begriff, G.J.) hatten umgekehrt die ukrainische Armee und die territorialen Verteidigungskräfte der Ukraine russische Panzertruppen vor Kiew aufgehalten, zum Beispiel in Butscha oder in Irpin.(…)“
Also, Patrick Mayer vergleicht Jagdversionen von Kampfpanzern des 2. Massenvernichtungskrieges mit „kleinen Infanterie-Truppen“.
Dahin kommt man, wenn man nur Sensationen formulieren will, damit die Leute die Werbung auf der Seite sehen. Also von „Panzerjägern“ kommt er zu „Panzerkillern“, weil sich das brutaler anhört. Und damit es noch brutaler (und vielleicht dem einen oder anderen Weltkriegs-Enthusiasten bekannter) wird, werden Jagd-Panzerfahrzeuge von damals erwähnt, die dann unter dem Begriff „Panzerjäger“ wieder zu den „kleinen Infanterie-Truppen“ von heute passen sollen. Der eigentliche Vergleich der heutigen infanteristischen Panzerabwehrwaffen mit den „Panzerfäusten“ des 2. Massenvernichtungskrieges ist dem Herrn Mayer nicht eingefallen.
Ich tippe, wie gesagt, als Motiv auf „Kassa machen“. Möglich ist aber auch, was General Kujat im Interview mit „Zeitgeschichte im Fokus“ vom 18.1.23 sagte:
„Die Debatte über die Lieferung bestimmter Waffensysteme zeigt überdeutlich die Absicht vieler Medien, selbst Politik zu machen. Es mag sein, dass mein Unbehagen über diese Entwicklung eine Folge meines langjährigen Dienstes in der Nato ist, unter anderem als Vorsitzender des Nato-Russland-Rats und der Nato-Ukraine-Kommission der Generalstabschefs. Besonders ärgerlich finde ich, dass die deutschen Sicherheitsinteressen und die Gefahren für unser Land durch eine Ausweitung und Eskalation des Krieges so wenig beachtet werden. Das zeugt von einem Mangel an Verantwortungsbewusstsein oder, um einen altmodischen Begriff zu verwenden, von einer höchst unpatriotischen Haltung. In den Vereinigten Staaten, einem der beiden Hauptakteure in diesem Konflikt, ist der Umgang mit dem Ukrainekrieg wesentlich differenzierter und kontroverser, gleichwohl aber immer von nationalen Interessen geleitet.“ Nr. 1 vom 18. Januar 2023 – Zeitgeschehen im Fokus https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-1-vom-18
Nach diesen Bemerkungen nochmals richtiges Denken:
Diese infanteristischen Trupps mit „schultergestützten Lenkflugkörper-Panzerfäusten und Aufklärungsdrohnen“ (so ja der Autor oben selbst) sind genau das Gegenteil von riesigen (und damit treffbaren) und teuren gepanzerten Fahrzeugen. Die „schultergestützten Lenkflugkörper-Panzerfäusten und Aufklärungsdrohnen“ sind zwei Kernelemente aus der Defensivkriegstheorie des deutschen Generals Löser und des österreichischen Generalstabschefs Spannocchi – beide aus der Endphase des Kalten Krieges. (Ich hatte auf diese Defensivwaffen schon in meinem Artikel „Defensiv- und Offensivwaffen“ im April 2022 in meinem Blog hingewiesen: https://xn--frieden-fhren-4ob.info. Dort auch der Artikel über Löser und Spanocchi: Beispiele für Gegen-Experten III: Jochen Löser).
Und die Befunde beider Generale auf der Basis der heutigen Waffen wurde schon von Clausewitz als meist gültiger Grundsatz formuliert:
„Die Überlegenheit, welche wir der verteidigenden Kriegsform zugeschrieben haben, liegt:
- In der Benutzung der Gegend;
- in dem Besitz eines eingerichteten Kriegstheaters
- in dem Beistand des Volkes (C. meint also nicht eine Verteidigung am Ende einer Siegesstrecke im Feindesland, diese Verteidigung nach Offensive im Feindesland beinhaltet nach Clausewitz auf Seite 943 meist nur den ersten dieser vier Punkte, G.J.)
- in dem Vorteil des Abwartens.“(aus: Clausewitz, Carl v: Vom Kriege. Hrsg. W. Hahlweg. Bonn (Dümmler Verlag) 1973 (18), S. 942f. Der Fettdruck ist von mir hinzugefügt.)
Clausewitz betont an ca. acht weiteren Stellen direkt die Überlegenheit der Defensive über die Offensive.
Fazit:
Anstrengungen der ukrainischen Führung auf eine eigene Offensive haben deshalb keine militärische Begründung, sondern das politische Ziel die von RU eroberten Gebiete zurückzuerobern, auch wenn diese z.T. vor 2014 von Leuten bewohnt wurden, die sich eher RU zuordnen. Dieses Bestreben auf Offensive kann sogar zu einem erheblichen Rückschlag für die Ukraine führen.
Umso wichtiger wären Verhandlungen jetzt/bald!!!
Und nochmals:
Wer heute für diesen Krieg noch von Offensiven massierter gepanzerter Verbände träumt, verwechselt wie der Autor den heutigen Krieg mit den heutigen Verhältnissen mit denen des 2. Massenvernichtungskrieges. Selbst wenn solche Offensiven Teil-Erfolge zeitigen sollten, so sind dies rein militärische Erfolge, die politisch eher kontraproduktiv wirken dürften.
Auf alle Fälle ist „Werbung“ für diese Panzer-Dino-Verbände ohne saubere Erwähnung der Erfolge der viel billigeren „schultergestützten Lenkflugkörper-Panzerfäusten und Aufklärungsdrohnen“ (natürlich im üblichen Verbund der Waffen) einzig und allein Werbung für den Militär-Industrie-Komplex, der natürlich viel lieber so richtige Kampf-Panzer baut (zum MIK siehe meinen Artikel im o.g. Blog vom April 2022: „Ein Kriegsgrund der letzten 100 Jahre: Präsident Eisenhower informiert)