Mittlerweile äußern sich ja fast alle Experten – wirkliche und selbst ernannte – in dem Sinne, dass der Krieg die Gestalt eines Stellungskrieges mit Grabenkrieg und Materialschlachten mit gegenseitiger Abnutzung angenommen habe. Oft wird das dann durch das historische Beispiel des 1. Weltkrieges (Massenvernichtungskrieges) illustriert. Und zwar kann man den Mangel an Bewegung nicht nur durch die jetzt noch andauernde Schlammperiode erklären – dafür dauern die Phasen des Stellungskrieges hier schon viel zu lange und sind zu häufig.
Ich jedenfalls möchte die These der Experten hier überprüfen, und zwar so, dass man Ähnlichkeiten mit 1914-1918 sieht, aber auch Unterschiede. Und diese Unterschiede würden dann wieder eine Basis für mögliche Urteile über eine Beendigung des Krieges ergeben.
These
Die oben genannte Behauptung, die jetzige Situation an der ukrainisch-russischen Front gleiche dem „Stellungskrieg“ des 1. Weltkrieges, ist so falsch.
Begründung
Der „Stellungskrieg“ im 1. Weltkrieg ist grundsätzlich ein Phänomen der Westfront. An der Ostfront hat es dagegen auch im 1. Weltkrieg große Bewegungen gegeben (Stillstände mit Stellungsausbau zwischen den raumgreifenden Offensiven auch). Dieser Befund erhärtet sich noch, wenn man auf die Nachfolgekriege in diesem Raum sieht: Die Kämpfe des russischen Bürgerkrieges, aber auch besonders des sowjetisch-polnischen Krieges. All diese sind ausgesprochene Bewegungskriege. Ja, auch die Kämpfe des deutschen Massenvernichtungskrieges (2. Weltkrieg) sprechen in diese Richtung.
Besondere Auffälligkeiten der jetzigen Situation
Die russisch/sowjetische Kampfführung wandte oft das Festhalten des Gegners an einer Frontstelle an, um dann an der Flanke oder den Flanken überlegene Kräfte zu massieren und dort durchzubrechen. Musterbeispiel: Stalingrad bzw. Kursk. Auch das abwechselnde Auslösen von Abschnittsfronten ist ein Element dieser Kriegsführung im 2. Weltkrieg, so bei den Sommeroffensiven 1944. All dies wird ja wohl auf den Militärakademien Russlands gelehrt. Seltsam also, dass diese operativen Modelle in diesem Krieg kaum vorkommen. Ausnahme: Im Sommer 2022 gab es solch einen beidseitigen russischen Flankenangriff bei Sjewjerodonezk und Lysytschansk: Man griff die wenig standfesten ukrainischen Einheiten von Wehrpflichtigen und Territorialverteidigung an und erzielte Durchbrüche.
Also:
Wieso wendet Russland diese operativen Formen der Kriegführung aus seiner Vergangenheit jetzt nicht an, etwa bei Bahmut, wo der Gegner sich sogar stellt, d.h. sich abnutzen lässt, sodass man beiderseits Bahmut den Flankenangriff ansetzen könnte?
Wieso kommt es im Osten in den genannten historischen Fällen zu Elementen eines Bewegungskrieges, während wir jetzt eine Art Stellungskrieg sehen?
Mir scheint, dass gewisse grundlegende Faktoren hierzu Auskunft geben
Die Dimensionen des 1. Weltkrieges im Osten
Die Front 1916 von Riga bis zur rumänischen Grenze/zum Schwarzen Meer beträgt rund 1600 km.
Hier waren zu Beginn der Brussilow-Offensive im Sommer 1916 vorhanden: 2 240 000 Soldaten der zaristischen Armee, 1 046 000 Soldaten der deutschen und österreichisch-ungarischen Armee.
Summa: rund 3 300 000 Soldaten.
Berechnung des Verhältnisses von Soldaten auf 1 km Front:
3 300 000 Soldaten : 1 600 000 Meter Front : = 2 Soldaten pro Meter Front
Exkurs 2. Weltkrieg (zur Kontrolle der o.g. Dimensionen)
Die o.g. Frontlänge wird auch für die Front zu Beginn des Russlandkrieges 1941 vom populären Schriftsteller Paul Carrell bestätigt („Unternehmen Barbarossa“). Hier allerdings tritt schon die deutsche Seite incl. Verbündete mit 3 000 000 Mann an. Die Zahl für die Rote Armee müsste man noch hinzurechnen.
Die Dimensionen des 1. Weltkrieges im Westen 1916
Die Front vom Ärmelkanal bis zum Dreiländereck Frankreich, Deutschland, Schweiz: 750 km.
Britische Armee im Sommer 1 500 0001
Französische Armee: ca. 3 000 000
Deutsche Armee: ca. 3 000 0002
Summe: ca. 7 500 000 Soldaten auf 750 000 Meter Frontlänge = ca. 10 Soldaten/m
Dimensionen des heutigen Ukrainekrieges
Grenzlänge der Landgrenze vor 2014: 1940 km,Frontlänge heute geschätzt ebensoviel, denn: einiges am Donbass-Bogen hat die Grenze verkürzt, dazu kam aber die Süfront. Die Nordfront fast gleichlaufend mit der Vorkriegsgrenze, ohne die Grenze zu Belarus, also gemessen ab dem Dreiländereck: Belarus, Russland, Ukraine (westlich Pripjet/Pripjat), die Ostfront nicht entlang der bis 2014 verlaufenden Staatengrenze, sondern weiter westlich inmitten des Donbass, die Südfront von Andrijiwka bis Cherson/Mikolajiw. Ich habe die o.g. 1940 gerundet auf 2000 km, selbst das scheint mir noch defensiv gerechnet, da ich mit dem Zirkel eher Luftlinien abgemessen habe.
Anzah der Soldaten:
RU geschätzt 180 000 (Aufgebot im Februar 2022) minus Verluste von ca. 30 000 + 300 000 „Teilmobilmachung“ vom September 2022 = grob 450 000
UA lt. CIA-Factbook bis zum Februar 2022 mit allen bewaffneten Einheiten (Armee, Marine, Luftwaffe, Spezialkräfte, Territorialverteidigung, Grenzscutzverbände) 290 000, Mitte 2022 bis zu 700 000. Hiervon ziehe ich geschätzte 100 000 für Grenzschutz entlang der belarussischen Grenze ab und 100 000 für Schutzaufgaben im Landesinnern incl. Ausbildung = 500 000 entlang der Nord-, Ost- und Südfront
Also russische und ukrainische Kampfverbände an den drei Kampffronten: 950 000, gerundet 1 000 000.
1 000 000 Soldaten : 2 000 000 Meter Frontlänge = 0,5 Soldaten /m.
Erstes Fazit:
Die o.g. Zahlen sind oft gerundet, da ich ja kein Institut zur Verfügung habe und allein recherchiere. Dennoch dürfte die Tendenz klar sein: Im jetzigen Krieg wäre eigentlich Bewegung zu erwarten, da die Front nicht durchgängig von ausreichenden Einheiten gehalten wird. Im 1. Massenvernichtungskrieg an der Westfront standen pro Meter etwa 20 Mal so viele Soldaten zur Verfügung, also viele „Blockaden“ gegen Durchbruch und Bewegung.
Erste Ergebnisse im Einzelnen:
a) Unterschiede zum 1. Massenvernichtungskrieg
- Die Massierung von Kräften ist wegen der für die Länge der Front geringen Stärken schwierig, da man dann die anderen Abschnitte noch mehr ausdünnen müsste.
- Anders als im 1. Massenvernichtungskrieg sind die Mittel der luft- und weltraumgestützten Aufklärung so effektiv, dass eine getarnte Massierung für beide schwierig ist. Auch im 2. Massenvernichtungskrieg war die Aufklärung durch Flugzeuge noch wesentlich weniger effektiv als jetzt. – Falls nun jemand die erfolgreichen Offensiven der Ukrainer dagegen hält: Ich vermute, dass die Offensive auf Charkiw im letzten Herbst deswegen so großes Überraschungsmoment hatte, da die russische Seite bis dahin die Ukrainer unterschätzt hatte und besondere geografische Bedingungen (Wald) vorlagen.
- Beide waren aus jeweils anderen Gründen nicht in der Lage vor Beginn des Krieges eine Überlegenheit zu schaffen, die weite Durchbrüche und damit Bewegungen erlaubt hätte.
Ähnlichkeiten zum 1. Massenvernichtungskrieg
- Die Mittel der Defensive scheinen mir heute diejenigen der Offensive zu übertreffen. Dies war auch so im 1. Massenvernichtungskrieg: Die überstarke Artillerie(Rohrrücklauf, industrielle Massen-Munitionsherstellung) und das Maschinengewehr verliehen der Defensive eine Kraft, gegen die die Offensive zunächst kaum Mittel fand. Die Mittel heute sind natürlich andere als vor 100 Jahren. Beschrieben hatte ich das schon in einem Artikel aus dem letzten Frühjahr über Offensiv- und Defensivwaffen. Nur ein Beispiel, um die damalige These zu verdeutlichen: Die bisher eingesetzten Panzer können zu wesentlich geringeren Kosten von Drohnen oder „Panzerfäusten“ (Sammelname) bekämpft werden, wobei oft der Schütze getrennt von der Waffe aufgestellt sein kann. Auch Flugzeuge als großflächige Ziele scheinen das Schicksal der Panzer zu teilen.
- Diese Stärke der Defensive ist ein Kernelement der Theorie von General Löser („Weder rot noch tot“, s. meinen Artikel hierzu) und eine zentrale Aussage von Clausewitz, der auch die Defensive für die stärkere Kampfform hält.
Fazit für die Friedensführung
Beide Seiten dürften nur um den Preis weiterer Mobilisierungen eine Schwerpunktbildung bei gleichzeitiger Abdeckung der Gesamtfront schaffen können. In Russland ist dies angesichts der höheren Bevölkerungszahl möglich, dürfte aber auch dem Letzten dort klarmachen, dass sein Land – entgegen den Versprechungen der obersten Führung – in einem „echten“ Krieg steckt. Für die Ukraine sind weitere Mobilisierungen kaum möglich, wenn die Angaben von Oberst Reisner vom Österreichischen Bundesheer über die Zahl der bisherigen Mobilisierungen zutreffen. Die Ukraine kann also Offensiven mit Massierung von Kräften nur beginnen, wenn sie andere Abschnitte ausdünnt.
Ob die jeweiligen Führungen diese Risiken auf sich nehmen, scheint mir zweifelhaft. Jedenfalls sollten diejenigen Kräfte, die den Krieg durch Kompromiss beenden wollen, diese Risiken zur Sprache bringen.
Ob eine Überlegenheit durch mehr Material bei einer der beiden Seiten möglich sein könnte? Auch dies erscheint zweifelhaft, da wir ja festgestellt haben, dass a) das offensive Material wesentlich teurer und damit auch schwerer herzustellen ist als defensive Mittel, und b) überraschende Massierungen durch die beschriebenen vielfältigen Aufklärungsmöglichkeiten auch immer schwieriger werden.
Noch ein Negativpunkt für russische Hoffnungen: Bei so schwachen Kräften hilft auch ein Durchbruch nicht, selbst wenn von da aus noch weitere Teile der Ukraine besetzt werden könnten: Wie schon ein BW-General auf Youtube bemerkte und ich hier schon öfter: Dann würde ein Guerillakrieg kommen, den die Ukrainer schon aus ihrer Vergangenheit kennen, und der optimale Randbedingungen in den vielen angrenzenden NATO-Ländern hätte.
Man könnte noch viele weitere Gedanken hier äußern. Bestimmt werden Sie selbst hier auf weitere Faktoren kommen.
Eine Tendenz aber scheint mir klar zu sein:
Keine der beiden Seiten sollte sich der Illusion hingeben, dass das Mittel des Krieges unter den gegebenen Bedingungen erfolgreich sein dürfte.
Es bleibt ein Ausblick auf Tendenzen fürs nächste oder übernächste Jahr, wenn bei NATO die nationalen Armeen weiter aufgerüstet sein werden und die „Schnelle Eingreiftruppe“ von 40 000 auf 300 000 angewachsen sein sollte: Was passiert in der Zwischenzeit bei den vielen Nationen von NATO (Allianzproblematik!!!)? Würde Russland eine Ausweitung von der Nordgrenze Finnlands bis zur Türkei nicht eskalierend beantworten, da es konventionell nicht gegenhalten könnte? Damit wäre auch hier das Mittel des Krieges ad absurdum geführt!!!
Also, mit abgewandelten Worten des alten Cato:
Ceterum censeo bellum in Oriente crescens NUNC esse reprimendum!
(Im Übrigen bin ich der Meinung, dass der im Osten anwachsende Krieg JETZT/BALD zurückgedrängt werden muss)
Anmerkungen zu den Berechnungen oben:
1Corelli-Barnett gibt in seinem Standardwerk „Britain and her Army“ für Januar 1916 38 Infanteriedivisionen und 5 Kavalleriedivisionen. Ich habe dies zusammengezogen zu grob 40 Divisionen, da die Kavalleriedivisionen ja weniger mannschaftsstark waren. 40 Divisionen à 25 000 Mann = 1 000 000. Nach Corelli-Barnett steigerten die Briten dann bis zur Somme-Offensive ihre Mannschaftsstärke auf 1 500 000, also um 50%.
2Anmerkung zur Zahl der Deutschen und Franzosen: Genaue Zahlen habe ich bei Eingabe von „Heeresstärke Westfront 1916“ oder ähnlichen Suchfragen im Netz nicht gefunden. Auch Stegmanns (Hermann Stegemanns: Geschichte des Krieges. 4. Band. Stuttgart u Berlin 1921 schweigt sich zu 1916 bzgl. der Anzahl der Soldaten aus. Auf der Seite des Bundesarchivs werden Zahlen genannt, wobei sich das Archiv auf das umfangreiche Werk von Hermann Cron, Geschichte des Deutschen Heeres im Weltkriege 1914-1918, Berlin 1937 im Wesentlichen stützt. Das Archiv nennt dann auch auf der Seite (https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Die-Deutschen-Heeresgruppen-Teil-1-Erster-Weltkrieg/die-deutschen-heeresgruppen-teil-1-erster-weltkrieg.html) die Zahl von 1,8 Millionen für die Westfront. Es wird aber nicht angegeben, für welches Jahr dies gilt!!! Vom Kontext her dürfte diese Zahl für 1915 gelten. Eine kurze Überlegung aber zeigt wohl, dass diese Zahl für alle Kriegsjahre nicht stimmen kann: Ende 1917/Anfang 1918 wurden ja ca. 1 Million Mann aus der frei werdenden Ostfront der Westfront zugeführt. Auch berücksichtigt die 1,8 Millionen nicht die mit den Jahren steigenden Kriegsanstrengungen, wie ich ja für die britische Seite genau belegen konnte (s. oben Anmerkung 1)