Versailles  I – Eine Kombination mehrerer (widerstrebender) Prinzipien


Vorbemerkung und Zusammenhang

Wohl alle, die diese Seite besuchen, haben schulisch oder privat schon von dem Versailler Vertrag gehört, und sei es auch nur im Zusammenhang mit der Suche nach den Ursachen des Aufstiegs der Nazis in Deutschland. – Die gängigen Artikel hier im Netz beleuchten hauptsächlich diesen letzten Aspekt, und konzentrieren sich deshalb hauptsächlich auf die Bestimmungen, die Deutschland betrafen.

Ich möchte den Vertrag hier besprechen

  • im Vergleich zum Berliner Kongress, um den Blick zu schärfen für Unterschiede;
  • als Manifestation mehrerer Prinzipien
  • in einem Artikel „Versailles II“:  einige wenig genannte Fakten in Erinnerung rufen.

Berliner Kongress 1878 und die dort wirkenden Prinzipien

Der Berliner Kongress im Jahre 1878 war formal und inhaltlich noch weitgehend vom Zeitalter der Herrscherhäuser/der Dynastien und der Kabinettspolitik geprägt: Bei den Vollsitzungen waren nur die Großmächte vertreten. Inhaltlich dominierte das Gleichgewichtsprinzip, welches Grenzverschiebungen als Kompensationen wie selbstverständlich beinhaltete. Die Interessen der Großmächte sind hier noch dominierend, Großmächte, die das Gleichgewicht unter sich durch immer neue Kompensationen mühsam erhalten.

(https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/berliner-kongress-1878.html)

Wertebasierte Außenpolitik, wie sie heute z.B. von der deutschen Regierung proklamiert wird, findet man kaum, außer: man würde das Prinzip der Legitimität von Monarchen auch als einen Wert erachten. Diesen Wert gab es auf dem Kongress noch insofern, als der dt. Reichskanzler versuchte, die Solidarität der drei Kaiserreiche aufrechtzuhalten, das sogenannte Dreikaiserbündnis – ein immer mühsameres Unternehmen.

Beispiel für Interessenpolitik und Kompensationen

            Zur Illustration der Interessenpolitik der Großmächte 1878 ein Beispiel: Frankreich hatte zwar keine Gebietserweiterungen in Europa bekommen, das war ja auch gar nicht Thema im engeren Sinne. Allerdings hatte es die Kongress-Kompromisse unterstützt und bekam dafür: das Recht sich Tunesien als Kolonie anzueignen, Tunesien, welches ja formal noch dem osmanischen Sultan tributpflichtig war!

Man merkt hier den Kompensationscharakter dieser Bestimmung und man merkt auch, dass auf das Nationalitätenprinzip/das Selbstbestimmungsrecht der Völker noch keine Rücksicht genommen wurde.

Das sollte sich in den nächsten 40 Jahren grundlegend ändern!

Der Durchbruch des Nationalitätenprinzips/des Selbstbestimmungsrechts der Völker

Schon in den Jahren nach 1878 kommt es auf dem Balkan zu immer stärkeren Manifestationen der dortigen Nationen. Höhepunkt sind die Balkankriege von 1912/1913, also Lokale Kriege, kurz vor dem großen, dem Ersten Weltkrieg. Hier wird also unter Inanspruchnahme von Werten wie Würde, Gleichberechtigung, Identität, Volkssouveränität gefordert, dass sich jede Nation selbst regieren dürfe. Also ist auch das  Nationalitätenprinzip eine Art von Wertebasierung.

Ich vermute, dass Sie als Leserin/Leser sofort merken, dass das Nationalitätenprinzip automatisch zur Frage von NEUEN National-Staaten und damit automatisch zur Frage von deren Grenzen führt – und im Falle der Balkankriege schon zum Vorgeschmack der Schwierigkeiten dieses Prinzips. (Wir sind hier schon kurz vor dem Prinzip, das dann Mitte der 70ger Jahre des 20. Jahrhunderts auf Grund der damaligen Situation zwischen den Blöcken als Prinzip der Unverletztlichkeit der Grenzen die europäische Politik dominiert. Das Prinzip selbst taucht schon im Völkerbunds-Artikel der 14 Punkte Wilsons auf, siehe weiter unten.)

Kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg jedoch ging es in Europa eben um Nation und Selbstbestimmung(die koloniale Welt startete erst ab 1945). Hier war damals am meisten Bewegung, aber auch die meiste Gefahr für den damaligen Zustand, den status quo.

Von diesen Bewegungen am meisten betroffen waren die Viel-Völker-Monarchien: Österreich- Ungarn und das Osmanische Reich waren am meisten betroffen, weil die Herrschaft dort schwach und die Zahl der beherrschten Völker groß war; Russlands Herrschaft war auch schwach, jedoch waren die Unabhängigkeitsbewegungen der muslimisch-asiatischen Völker an seiner südlichen Grenze noch nicht stark.

 Ja,  und Preußen-Deutschland hatte auch ein Minderheitenproblem: im Westen die nach Frankreich strebenden Bevölkerungen Elsaß-Lothringens, im Osten die „preußischen“ Polen; ja, und eine dänische Minderheit.

Für die drei alten Vertreter der Interessenpolitik des alten europäischen Gleichgewichts stand also besonders viel auf dem Spiel: sie waren die Verlierer des Ersten Weltkrieges, sie waren also 1918/19 in einem Zustand der Schwäche und deshalb prädestiniert dafür „Opfer“ des Drangs nach Selbstbestimmung der von ihnen vorher beherrschten Völker zu sein.

Versailles  I – Eine Kombination mehrerer (widerstrebender) Prinzipien

Vorbemerkung und Zusammenhang

Wohl alle, die diese Seite besuchen, haben schulisch oder privat schon von dem Versailler Vertrag gehört, und sei es auch nur im Zusammenhang mit der Suche nach den Ursachen des Aufstiegs der Nazis in Deutschland. – Die gängigen Artikel hier im Netz beleuchten hauptsächlich diesen letzten Aspekt, und konzentrieren sich deshalb hauptsächlich auf die Bestimmungen, die Deutschland betrafen.

Ich möchte den Vertrag hier besprechen

  • im Vergleich zum Berliner Kongress, um den Blick zu schärfen für Unterschiede;
  • als Manifestation mehrerer Prinzipien
  • in einem Artikel „Versailles II“:  einige wenig genannte Fakten in Erinnerung rufen.

Berliner Kongress 1878 und die dort wirkenden Prinzipien

Der Berliner Kongress im Jahre 1878 war formal und inhaltlich noch weitgehend vom Zeitalter der Herrscherhäuser/der Dynastien und der Kabinettspolitik geprägt: Bei den Vollsitzungen waren nur die Großmächte vertreten. Inhaltlich dominierte das Gleichgewichtsprinzip, welches Grenzverschiebungen als Kompensationen wie selbstverständlich beinhaltete. Die Interessen der Großmächte sind hier noch dominierend, Großmächte, die das Gleichgewicht unter sich durch immer neue Kompensationen mühsam erhalten.

(https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/berliner-kongress-1878.html)

Wertebasierte Außenpolitik, wie sie heute z.B. von der deutschen Regierung proklamiert wird, findet man kaum, außer: man würde das Prinzip der Legitimität von Monarchen auch als einen Wert erachten. Diesen Wert gab es auf dem Kongress noch insofern, als der dt. Reichskanzler versuchte, die Solidarität der drei Kaiserreiche aufrechtzuhalten, das sogenannte Dreikaiserbündnis – ein immer mühsameres Unternehmen.

Beispiel für Interessenpolitik und Kompensationen

            Zur Illustration der Interessenpolitik der Großmächte 1878 ein Beispiel: Frankreich hatte zwar keine Gebietserweiterungen in Europa bekommen, das war ja auch gar nicht Thema im engeren Sinne. Allerdings hatte es die Kongress-Kompromisse unterstützt und bekam dafür: das Recht sich Tunesien als Kolonie anzueignen, Tunesien, welches ja formal noch dem osmanischen Sultan tributpflichtig war!

Man merkt hier den Kompensationscharakter dieser Bestimmung und man merkt auch, dass auf das Nationalitätenprinzip/das Selbstbestimmungsrecht der Völker noch keine Rücksicht genommen wurde.

Das sollte sich in den nächsten 40 Jahren grundlegend ändern!

Der Durchbruch des Nationalitätenprinzips/des Selbstbestimmungsrechts der Völker

Schon in den Jahren nach 1878 kommt es auf dem Balkan zu immer stärkeren Manifestationen der dortigen Nationen. Höhepunkt sind die Balkankriege von 1912/1913, also Lokale Kriege, kurz vor dem großen, dem Ersten Weltkrieg. Hier wird also unter Inanspruchnahme von Werten wie Würde, Gleichberechtigung, Identität, Volkssouveränität gefordert, dass sich jede Nation selbst regieren dürfe. Also ist auch das  Nationalitätenprinzip eine Art von Wertebasierung.

Ich vermute, dass Sie als Leserin/Leser sofort merken, dass das Nationalitätenprinzip automatisch zur Frage von NEUEN National-Staaten und damit automatisch zur Frage von deren Grenzen führt – und im Falle der Balkankriege schon zum Vorgeschmack der Schwierigkeiten dieses Prinzips. (Wir sind hier schon kurz vor dem Prinzip, das dann Mitte der 70ger Jahre des 20. Jahrhunderts auf Grund der damaligen Situation zwischen den Blöcken als Prinzip der Unverletztlichkeit der Grenzen die europäische Politik dominiert. Das Prinzip selbst taucht schon im Völkerbunds-Artikel der 14 Punkte Wilsons auf, siehe weiter unten.)

Kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg jedoch ging es in Europa eben um Nation und Selbstbestimmung(die koloniale Welt startete erst ab 1945). Hier war damals am meisten Bewegung, aber auch die meiste Gefahr für den damaligen Zustand, den status quo.

Von diesen Bewegungen am meisten betroffen waren die Viel-Völker-Monarchien: Österreich- Ungarn und das Osmanische Reich waren am meisten betroffen, weil die Herrschaft dort schwach und die Zahl der beherrschten Völker groß war; Russlands Herrschaft war auch schwach, jedoch waren die Unabhängigkeitsbewegungen der muslimisch-asiatischen Völker an seiner südlichen Grenze noch nicht stark.

 Ja,  und Preußen-Deutschland hatte auch ein Minderheitenproblem: im Westen die nach Frankreich strebenden Bevölkerungen Elsaß-Lothringens, im Osten die „preußischen“ Polen; ja, und eine dänische Minderheit.

Für die drei alten Vertreter der Interessenpolitik des alten europäischen Gleichgewichts stand also besonders viel auf dem Spiel: sie waren die Verlierer des Ersten Weltkrieges, sie waren also 1918/19 in einem Zustand der Schwäche und deshalb prädestiniert dafür „Opfer“ des Drangs nach Selbstbestimmung der von ihnen vorher beherrschten Völker zu sein.

https://img.welt.de/img/geschichte/mobile187234726/7111355027-ci16x9-w880/Paris-Peace-Conference-to-negotiate-post-World-War-I-peace-treaties-at-the-Quai.jpg

Exkurs (aus Anlass der gerade erwähnten Minderheiten in Deutschland)

Damit sind wir noch zu  einem Volk  gekommen, welches durch die drei konservativen Monarchien des „Dreikaiserbündnisses“ geteilt war: den Polen. Das Schicksal des geteilten Polen und das des im Versailler Vertrag neu gegründeten Polen ist exemplarisch für das Gewicht, aber auch die Probleme des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. – Da es aber hier um die Herstellung des Versailler Vertrages im Ganzen geht, soll hier von diesem besonderen Fall nicht weiter im Einzelnen die Rede sein. Für alle, die an einem Fallbeispiel die alten und neuen Prinzipien am Werk sehen wollen, sei das Beispiel Polens unbedingt empfohlen.

Auf die Sieger des Weltkrieges kam mit ihrem Sieg über die Vielvölkermonarchien automatisch die Aufgabe zu, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker im Friedensvertrag zu entsprechen. Alle drei waren parlamentarische Demokratien und förderten schon deshalb a) die Selbstbestimmung von Völkern (also die Demo-Kratie = die Herrschaft des Volkes) und b) die Entstehung solcher Regierungsformen bei den befreiten Völkern. Auch die Wissenschaft in den Ländern der Sieger glaubte, dass Demokratie von ihrem Wesen her friedliebender sei als die alten Monarchien mit ihren Kriegeraristokratien. Denn (so etwa dachte man): Welches Volk, das im Besitz der Regierungsgewalt ist, wird seine eigenen Söhne in einen Angriffskrieg schicken? Und jetzt logisch weitergedacht:

Nachempfinden kann man dieses Denken, wenn man die 14 Punkte liest, die der US-Präsident Wilson noch im Krieg veröffentlichte, in der Absicht, dass diese Punkte die Basis für den zukünftigen Friedenszustand würden.

Ich gebe hier drei der vierzehn Punkte in meiner Übersetzung wieder, in denen das Prinzip des Nationalstaates/das Selbstbestimmungsrecht der Völker klar hervortritt:

Punkt 9: Eine Neueinrichtung der Grenzen Italiens sollte entlang klar erkennbarer Nationalitätslinien erfolgen.

Punkt 10: Den Völkern von Österreich-Ungarn, deren Platz unter den Nationen wir absolut gesichert wissen möchten, sollte die freieste Möglichkeit autonomen/eigenständiger Entwicklung zugemessen werden.

Punkt 13: Ein unabhängiger polnischer Staat sollte errichtet werden, der die Territorien umfassen sollte, die unzweifelhaft von polnischer Bevölkerung bewohnt werden, (und) dem ein freier und sicherer Zugang zum Meer zugesichert sein sollte, und dessen politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit durch internationale Übereinkommen garantiert sein sollte.

(X. A readjustment of the frontiers of Italy should be effected along clearly recognizable lines of nationality.X. The peoples of Austria-Hungary, whose place among the nations we wish to see safeguarded and assured, should be accorded the freest opportunity to autonomous development.XIII. An independent Polish state should be erected which should include the territories inhabited by indisputably Polish populations, which should be assured a free and secure access to the sea, and whose political and economic independence and territorial integrity should be guaranteed by international covenant.) zitiert nach: https://www.archives.gov/milestone-documents/president-woodrow-wilsons-14-points (also die Nationalen Archive der USA)

Fazit:

Wir sind also von 1878 bis 1919 fortgeschritten vom „Schachern“ mit Ländern, hauptsächlich durch Monarchien, zu dem Versuch, einen Friedenszustand aufzubauen auf einem ur-demokratischen Prinzip: dem des Rechtes eines jeden Volkes, sein Schicksal und seine Staatlichkeit selbst zu bestimmen.

Wie oft bei so hohen Idealen sollte der Absturz in die Wirklichkeit umso tiefer sein!

Aber dazu in „Versailles II“