In diesen Tagen jährt sich ja der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Da ist man doppelt aufmerksam gegenüber Gefahren aus der Atomenergie – sei dies militärisch oder zivil.
Deshalb traf mich auch die Nachricht unmittelbar, dass das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja (russ: Saporoschje; engl. Zaporizhzhia) unter Beschuss sei. Seltsam fand ich bei den Berichten der welt/ntv-Nachrichten und denen des ZDF, dass dort verklausuliert davon berichtet wurde, etwa: Das von Russland eroberte Atomkraftwerk sei beschädigt worden und Präsident Selenskyj habe protestiert.
Dann habe ich versucht, die dortige Situation genauer vorzustellen:
Russland hat in der Anfangsphase des Krieges das AKW besetzt.
Eine Rückeroberung durch die Ukraine wurde bisher nicht gemeldet.
Also ist es weiter im „Besitz“ der russischen Besatzer.
Wenn das AKW nun als beschädigt gemeldet wird, haben entweder
- die russischen Besatzer das von ihnen besetzte AKW beschädigt
oder
- das AKW wurde/wird von der Ukraine beschossen und dadurch beschädigt.
Diese Möglichkeit hört sich so ungeheuerlich an, dass ich es nur dadurch mir plausibel machen konnte, indem ich diese Beschädigung als Folge von Kampfhandlungen annahm: a) russische Waffen sind dort stationiert, sie feuern auf ukrainische Waffen/Stellungen, die Ukrainer versuchen diese russischen Waffen zu zerstören, damit diese nicht sie selbst gefährden; b) die ukrainische Führung will das wichtige AKW einfach zurückerobern und beschießt deshalb die russischen Besatzer.
Die andere Alternative, nämlich dass Russland das in seinem „Besitz“ befindliche AKW selbst beschießt, schien und scheint mir unwahrscheinlich.
Ich vermute, dass alle, die das hier lesen, alle diese Erklärungen für unlogisch bzw. selbstzerstörerisch, und damit vernunftwidrig halten werden.
Ich nahm mir vor, die Sache anhand der Reden des ukrainischen Präsidenten zu klären – unsere Medien waren mir viel zu ungenau.
Heute hatte ich dann Zeit nachzuforschen. Ich durchsuchte auf der Internetseite des ukrainischen Präsidenten dessen Reden vom 28.7. bis zum 11.8.
Das AKW kommt nur in den Reden vom 7.8. und 11.8. vor – jedenfalls haben die Reden zwischen diesen Daten andere Themen. Ich durchsuchte genauer diejenigen Reden früheren Datums, die die militärische Situation schon in der Überschrift nannten. Ich fand eine Rede vom 4.8. über eine Konferenz mit allen führenden Militärs – aber ein Angriff auf das AKW kam darin nicht vor, also drei Tage vor der ersten Erwähnung russischer Angriff(e) auf das AKW, wie Sie es hier direkt in der Rede vom 7.8. geschildert sehen. Ich fand eine andere Rede am 28.7. zum Tag der Staatlichkeit (siehe unten), in der das AKW nicht vorkommt, aber folgende Anklage: ‚Niemand in der Welt investiert mehr in Terrorismus als Russland.‘ („No one in the world invests in terrorism more than Russia.“)
Eine zweite Rede am selben 28.7. musste aber das AKW erwähnen, es ist die Rede vor dem ukrainischen Parlament zum „Tag der Staatlichkeit“ – so dachte ich folgerichtig, denn dort müsste ein Präsident natürlich eine Überblick über die militärische Situation bieten und dabei die atomare Drohung erwähnen. Nichts dergleichen, der Name Saporischschja fällt nicht. Ich bitte Sie alle das selbst zu „checken! (https://www.president.gov.ua/en/news/speeches)
(„statehood“ – übrigens genau der Begriff, den der russische Präsident in seiner Rede zum Kriegsbeginn auch benutzte, um der Ukraine die ‚Staatlichkeit‘ abzusprechen!!!!)
Präsident Selenskyj am 7.8.22
‚Ich sprach heute mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel. Ich informierte ihn über die Situation auf dem Schlachtfeld, über die Drohung, die Russland erschaffen hat durch die Beschießung des Saporischschja AKW. Es gibt keine solche Nation in der Welt, die sich sicher fühlen kann, wenn ein Terror-Staat/terroristischer Staat auf ein AKW feuert. Gott verhüte, wenn etwas nicht Reparierbares passiert, niemand wird den Wind aufhalten, der die radioactive Verseuchung verbreitet. Deshalb wird genau jetzt eine grundsätzliche Antwort der internationalen Gemeinschaft auf diese russischen Angriffe auf das Saporischschja-AKW (das größte in Europa) benötigt. (Übersetzung von mir; Original lt. Präsidenten-Homepage direkt hier drunter)
„I spoke today with President of the European Council Charles Michel. I informed him about the situation on the battlefield, about the threat that Russia created by striking at the Zaporizhzhia nuclear power plant. There is no such nation in the world that can feel safe when a terrorist state fires at a nuclear plant. God forbid, if something irreparable happens, no one will stop the wind that will spread the radioactive contamination. Therefore, a principled response of the international community to these Russian attacks on the Zaporizhzhia NPP – the largest in Europe – is needed right now.“
Präsident Selenskyj am 11.8.22:
‚ Währen der Jahre des Betriebs dieser Station, gab es nicht einen einzigen Zwischenfall, der die Sicherheit von Ukrainern oder allen Europäern gefährdet hätte. Aber jetzt nutzt die russische Besatzungsarmee das Saporischschja-AKW für Terror und bewaffnete Provokationen.
Russland hat das AKW zum Schlachtfeld gemacht. Als die Besatzer zum Saporischschja-AKW kamen, feuerten ihre Panzer darauf. Direktes Feuer auf die Anlage! Indem sie militärische Ausrüstung auf dem Gelände der Anlage deponierten und sogar Munition hier ablegten, wissen die Russioschen Truppen sicher, dass sie ganz Europa dem Risiko eines atomaren Distasters ausliefern.
Und natürlich sind sich die russischen Dienststellen bewusst der möglichen Folgen, falls ihre Truppen auf eine Atomanlage feuern. Besonders, (der Folgen des Beschusses) mit Mehrfachraketenwerfern.
Im August, es war schon jetzt, zerstörten sie die Kommunikationslinien zu unserem Energiesystem, ebenso Sensoren zur Warnung vor Strahlung, die Station für Nitrogen-Oxygen, die Hydrogen-Pipelines und die damit verbundene Infrastruktur. Schon zu dieser Zeit war Europa wenige Schritte entfernt von atomarem Disaster. Und jetzt sind wir alle in dieser schwierigen Situation.
Wir sind überzeugt, dass es kein Zufall ist, dass die Überflugbahn der Marschflugkörper, die Russland auf das Territorium der Ukraine feuert, über ukrainischen Atomanlagen (!) ist. All dies sind Manifestationen des russischen atomaren Terrorismus. Russland ist ein Terrorstaat geworden, und hält aktuell Atomanlagen als Geisel und erpresst jedermann mit einem möglichen Disaster.
(Jetzt folgt ein Abschnitt, in dem Selenskyj behauptet, Russland könne mit einer atomaren Anlage wie Saporischschja dieselben Schäden anrichten wie mit taktischen Atomwaffen. Er schließt:
Niemand von uns kann den Wind aufhalten, wenn er Strahlung trägt. Aber zusammen sind wir in der Lage einen Terrorstaat aufzuhalten.Und je eher wir Russland stoppen, desto früher wird Europa und die Welt in der Lage sein sich sicher zu fühlen.‘
„During the years of operation of this station, there was not a single incident that would endanger the safety of Ukrainians or all Europeans. But now the Russian occupation army is using the Zaporizhzhia nuclear power plant for terror and armed provocations.
Russia has turned the nuclear plant into a battlefield. When the occupiers came to the Zaporizhzhia NPP, their tanks fired at it. Direct fire at the plant! Placing military equipment on the territory of the plant and even disposing of ammunition there, the Russian troops surely know that they are putting the whole of Europe at risk of a nuclear disaster.
And of course, the Russian authorities are aware of the possible consequences when their troops fire at a nuclear plant. In particular, from MLRS.
In August, it was already now, they damaged the plant’s communication lines with our power system, as well as radiation monitoring sensors, nitrogen-oxygen station, hydrogen pipelines and related infrastructure. Already then, Europe was a few steps away from a nuclear disaster. And now we are all in this difficult situation.
We are convinced that it is not a coincidence that the trajectory of the cruise missiles which Russia fires at the territory of Ukraine passes over the Ukrainian nuclear power plants. All these are manifestations of Russian nuclear terrorism.
Russia has become a terrorist state, and is actually holding nuclear plants hostage, and is blackmailing everyone with a probable disaster.
I am sure each of you has already thought about how to act if Russia uses so-called tactical nuclear weapons. Think about this as well. Russia can cause the largest radiation accident in history at the Zaporizhzhia nuclear power plant. In terms of actual consequences, it could be even more catastrophic than Chornobyl, and in fact – the same as the use of nuclear weapons by Russia, but without a nuclear strike.
None of us can stop the wind if it carries radiation. But together we are capable of stopping a terrorist state. And the sooner we stop Russia, the sooner Europe and the world will be able to feel safe again.“
Meine Stellungnahme zur Argumentation des ukrainischen Präsidenten:
Beim Vergleich der Inhalte in den Reden vom 7.8. und 11.8. fällt als Erstes auf, dass er in der früheren Rede eine viel einfachere Argumentation präsentiert: zwei Mal behauptet er, dass Russland auf das AKW feuere.
Im Gegensatz dazu am 11.8. (ich folge der Reihenfolge der Rede):
Russland ist Besatzungsarmee auf dem Gebiet des AKW
RU nutzt das (in seinem Besitz befindliche, G.J.) AKW für Terror und bewaffnete Provokationen
Bei der Inbesitznahme feuerte RU mit Panzern auf das AKW
RU nutzt das AKW militärisch.
RU könnte auf das AKW feuern – evtl. mit Mehrfachraketenwerfern
Jetzt zerstört RU im August die Verbindung des AKW zum ukrainischen Energiesystem und zerstört dort Infrastruktur
RU lässt seine Marschflugkörper zum Beschuss der Ukraine über (Plural!) ukrainische Atomanlagen fliegen
Fazit 1: Russland ist ein Terrorstaat, AKWs sind seine Geisel
Saporischschja ist stärker als Tschernobyl – es könnte als Ersatz für taktische Atomwaffen genutzt werden
Fazit 2: Der Terrorstaat Russland muss aufgehalten werden.
Hier fällt – wie gesagt – auf, dass Selenskyj viel ausführlicher die Gefahr schildert als am 7.8., obwohl er doch da den Präsidenten des Europarates anspricht. Seltsam, dass dieser eine so eindimensionale Argumentation überhaupt akzeptiert, eine Argumentation, die sich gar nicht bemüht, den erst einmal offenkundigen Widerspruch zu erklären, dass Russland auf das von Russland besetzte AKW feuert.
Dies scheint mir seltsam.
Am 11.8. gibt Selenskyj zu, dass Russland im Moment im Besitz des AKW ist. Dies muss er hier offen einräumen (im Gegensatz zu unseren Medien und seiner Wortwahl am 7.8.), denn sonst trifft Argument 2 ja nicht, dass RU das AKW zu Terror- und Provokationszwecken nütze.
Seltsam dann der Schritt chronologisch zurück zum Zeitpunkt der Eroberung des AKW. Warum feuerte RU damals mit Panzern und nicht mit Artillerie oder Raketen oder mit der Luftwaffe??? Die Panzer sind von all diesen diejenigen mit den schwächsten Kanonen. Sie dienen im Vergleich nicht zur weiträumigen Zerstörung, sondern der Inbesitznahme von etwas. Selenskyj sagt auch nicht, wohin diese Panzer bei der Inbesitznahme des AKW feuerten: etwa auf ukrainische Verteidigungs-/Feuerstellungen, was wahrscheinlich wäre, oder auf die Anlage selbst. In letzterem Falle wären aber Schäden entstanden, über die uns Selenskyj damals sicher sofort berichtet hätte.
Also: ich meine bewiesen zu haben, dass bei der sich im Kampf vollziehenden Eroberung des AKW auch Panzer eingesetzt wurden, dass diese aber das AKW nicht beschädigten.
Die Aussage, RU nutze das AKW militärisch, halte ich für zu ungenau. Denn: Jeder, der eine umstrittene Position, hier das AKW, einnimmt, muss dort zumindestens Flugabwehrsysteme installieren und evtl. um die Position herum Stellungen ausheben und befestigen. Erst einmal zu Verteidigungszwecken.
Ist das nun „militärische“ Nutzung?
Das Feuern auf das AKW – dessen Konsequenzen, besonders bei Raketenbeschuss: Stop, bisher konnte der ukrainische Präsident nicht das völlig Widersprüchliche beweisen, nämlich, dass Russland auf das von diesem besetzte AKW feuere. Nun hört sich die Stelle im Original so an, dass schon mit Mehrfachraketenwerfern gefeuert worden wäre. Dadurch ist aber der Hauptwiderspruch des Feuerns auf das Eigene nicht geklärt. Und: falls dieses Feuern mit Mehrfachraketenwerfern bei der Eroberung passiert sein sollte – warum hat Selenskyj oben erklärt, die Russen hätten mit „Panzern“ auf das AKW geschossen, und nicht die Raketen erwähnt, die ja viel schlimmer wären, wie ich oben bewiesen habe.
Bisher muss Selenskyj von Vorgängen bis Ende Juli geredet haben, denn er fährt selbst fort, dass RU im August begonnen habe, das AKW vom ukrainischen Energiesystem abzukoppeln und etwas der dortigen Infrastuktur zu „ändern“. Nun, falls RU im Gesamtzusammenhang des Energie-Krieges den Druck erhöhen will, so nutzt es das AKW selbst. Damit entfällt aber – logischerweise – die Nutzung des AKW als eine Art Atombombe.
Diese direkt danach von Selenskyj behauptete Gefahr erscheint mir als unlogisch und kontraproduktiv, denn atomare Verseuchung würde ja – je nach Windrichtung – auch den momentanen Besitzer, also RU, schaden können. Nicht umsonst hat man ja im 2. Weltkrieg aus dem vom Wind abhängigen Gaseinsatz des 1. Weltkrieges abgesehen!!!
Der gleiche Widerspruch scheint mir zu gelten für das behauptete Abfeuern von Marschflugkörpern (warum gerade diese, und nicht die Mehrfachraketenwerfer???) mit Flugbahn über die (jetzt Plural!) ukrainischen AKW: bei Saporischschja stünde dem der jetzige Besitzer mit seinem Eigennutz entgegen, bei den übrigen ukrainischen Atomanlagen das Problem der Windrichtung.
Fazit:
a) Durch die Wiederholung scheint klar, was Selenskyj eigentlich als Eindruck erwecken will:
Russland sei ein Terrorstaat.
Dieses „Narrativ“ muss der ukrainische Präsident für besonders wirksam halten, da ja seit den Flugzeugattacken auf New York jeder Politiker auf der Welt, der jemanden besonders anklagen will, diesen des Terrorismus beschuldigt. Vermutlich wirkt das Argument besonders in den USA.
b) Natürlich hat ein solchermaßen überfallenes Land jedes Recht, möglichst üble Propaganda mit den besten Propaganda-Tricks zu verbreiten. Das ist eine Art Notwehr-Recht. Auf einer anderen Seite steht die Frage, ob sich Atomkraftwerke tatsächlich dazu eignen als Propagandawaffe gegen den Gegner eingesetzt zu werden. Dafür ist das zu ernst – genauso wie der Atomkrieg selbst.
Nur fragt sich, ob dieses „Recht“ dem überfallenen Land auch nützt, wenn – ohne weitere Erklärungen – sein höchster Repräsentant Widersprüche zu jeder Logik verkündet wie das: Russland greift sein im Moment in seinem Besitz befindliches AKW an.
Auch sollte die internationale Gemeinschaft zwar verstehen, wieso Selenskyj mit dem geschilderten Propagandaziel möglichst viele Einzelheiten nennt, die den Terrorismusvorwurf zu bestätigen scheinen – sie sollte aber nicht in den Fehler verfallen all diese aus der Not geborenen Äußerungen für wahr zu halten, und sie sollte sich noch mehr hüten, den darin enthaltenen Dämonisierungen Russlands zu folgen.
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Autor dieses Artikels ist:
G. Jankowiak
Sodinger Str. 60
44623 Herne