Wer sich wundert, was eine im Ruhrgebiet vertriebene Zeitung des Funke-Medien-Konzerns mit so etwas wie Dialektik zu tun hat, muss wissen:
Die Nachbarn sind ein paar Tage weg, und deshalb leere ich morgens ihren Briefkasten, in dem sich auch die WAZ befindet. So eine Chance auch mal solch ein Zeitung zu lesen, nimmt man wahr.
Also habe ich gestern und heute (29.6.) nachgeforscht, ob jemand in dieser Zeitung den NATO Beschluss, die Truppenstärke der Schnellen Eingreiftruppe von 40 000 auf 300 000 Mann zu erhöhen, besonders erwähnt und vielleicht kommentiert hätte.
Fehlanzeige!!!
Und ähnliches auch für meine überregionale Zeitung.
Dabei müsste doch auffallen, dass die Verstärkung von 40 000 auf 300 000 Mann eine Steigerung ist, wie sie kaum übertroffen werden kann. Ich als mathematischer Krüppel würde sagen: eine Steigerung um rund 300 %.
Dies zuerst einmal zur quantitativen Steigerung.
Umschlag von Quantität in Qualität
Nun lehrt die Dialektik, dass Veränderungen in der Quantität auch zu Veränderungen der Qualität führen. Dieser Umschlag von Quantität in Qualität soll hier möglichst kurz und lesbar beschrieben werden.
- Dislozierung: Bisher standen an der langen Grenze zwischen NATO und Russland/Bjelarus die bekannten 40 000. Jeder wird einsehen, dass diese geringe Truppenzahl natürlich gegen einen Angriff keinen erfolgreichen Widerstand hätte leisten können. Sollte es auch gar nicht: es sollten nur bei einem eventuellen Überschreiten der Grenze eines NATO-Landes Soldaten des Bündnisses betroffen sein. Also die 40 000 als „Stolperdraht“, wie man es bildlich erklärte.
Standen also bisher nur vereinzelte kleine Einheiten verstreut an den Grenzen, so werden dies in Zukunft fast sieben Mal so viele sein, wesentlich dichter, in wesentlich festeren Positionen mit wesentlich sicherem Nachschub (Logistik).
- Vergrößerte Einheiten – vergrößerte Möglichkeiten.
Die gerade genannten kleinen Einheiten der 40 000 bestanden aus Bataillonen, also Einheiten zwischen 500 und 1200 Mann. Wegen dieses geringen Bestandes sind in einem Bataillon naturgemäß nur wenig verschiedene Waffengattungen vertreten, so hat z.B. ein Panzergrenadierbataillon keine eigene Flugabwehr. Deswegen ist ein Bataillon für sich allein nicht in der Lage ein größeres Gefecht zu führen. Eine Brigade dagegen besteht oft aus 4 Bataillonen, also zwischen 4000 und 5000 Mann. Eine Division hat 3-4 Brigaden, was z.B. bei der 1. Panzerdivision der Bundeswehr zu einer Stärke von 19 000 Mann führt.
Die Brigade ist kleinste Truppenverband, der ein Gefecht selbstständig führen kann. Das deshalb, weil sehr viele Spezialeinheiten für Spezialaufträge in ihr enthalten sind, so Pioniereinheiten, um Gewässer zu überqueren oder besondere Stellungen anzulegen oder für besondere Sprengmittel , oder Fernmeldeeinheiten für die Kommunikation. Auch würde eine Brigade Artillerieabteilungen beinhalten und Flugabwehr, und viele weitere Einheiten.
Man sieht also: aus den Kleinstverbänden der 40 000 entsteht durch die Vergrößerung auf 300 000 mittels der nun anderen Größe der Verbände eine ganz andere Kampfkraft.
Vom Stolperdraht zur Speerspitze
Ich will hier gar nicht anführen, dass die Gesamttruppenstärke der NATO incl. Finnland und Schweden nach den Zahlen aus dem CIA-Factbook 3,4 Millionen für das Jahr 2021 beträgt. Das würde einen falschen Eindruck erwecken, da ja z.B. ein beträchtlicher Teil der 1,2 Mio. der US-Streitkräfte irgendwo anders auf dem Globus stationiert und entweder gar nicht oder nur mit einer Verzögerung von einigen Monaten für Europa verfügbar ist.
Aber auf der anderen Seite sind die geplanten 300 000 Mann der Schnellen Eingreiftruppe den 895 000 Mann der russischen und bjelarussischen Streitkraft gar nicht so rettungslos unterlegen, wie es scheinen möchte.
Die 300 000 sind ja nur diejenigen Truppenteile eines Landes, die für diesen Zweck der NATO unterstellt werden. Natürlich bleibt der übrige Teil der Armee im eigenen Land. Und hiermit kommen wir dann zu wesentlich höheren Stärken an der bjelarussischen-russischen Grenze: Es sind die nicht direkt der NATO unterstellten Armeen von Finnland, Schweden, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Ungarn und Rumänien hinzuzuzählen!!!
Überschlägig dürften diese Armeen insgesamt eine Stärke von weiteren 300 000 Mann haben, wenn man pro Armee einmal 10 % für die Schnelle Eingreiftruppe abzieht.
Immer noch kein Match für die russisch-bjelarussische Armee?
Nun, man zähle noch die ukrainische Armee hinzu, die gerade auf beeindruckende Weise ihre Kampfkraft unter Beweis stellt. Reguläre Armee bis zum Angriff: 200 000; Nationalgarde 50 000; Vergrößerung der regulären Armee um 100 000 verkündet zu Beginn der Invasion (so das Werk der CIA).
Summa summarum:
Schnelle Eingreiftruppe: 300 000
Truppen der Grenzländer: 300 000
Ukraine (defensiv gerechnet): 300 000.
So fällt auf, dass die vormals angenommene Überlegenheit Russlands von 800 000 zu 300 000 sich fast in ihr Gegenteil verkehrt. Und mögliche Verstärkungen Russlands durch die schon für den 9.Mai angenommene Generalmobilmachung würden durch die gerade laufenden Verstärkungen jedes NATO-Landes wettgemacht.
Mögliche Szenarien
Nach Vollendung der Verstärkung der „Schnellen Eingreiftruppe“, während welcher Zeit viele NATO-Länder ja auch ihre sonstigen Streitkräfte verstärken werden, werden die folgen Szenarien dann möglich:
Mindestens: Grenzregionen Russlands oder von Bjelarus zu okkupieren, die man dann gegen Regionen der Ukraine, die im Moment von Russland besetzt sind, „eintauschen“ könnte;
Oder
Die Regierung des instabilen Bjelarus und seine Armee bricht unter einem begrenzten Angriff sofort zusammen, damit stünden NATO-Truppen dannn bei Smolensk (ich hatte schon in einem Artikel im Dezember 2021 auf die besondere Bedeutung dieser Region Russlands hingewiesen)
Oder
Es gelingt gegen die schon in der Ukraine abgenutzten Truppen Russlands ein großer Zangenangriff aus dem Baltikum und aus der Ukraine heraus. Das ist zwar schon logistisch sehr unwahrscheinlich, aber ein „worst case“, mit dem die russische Militärführung rechnen muss, vor allem, weil hier St. Petersburg und Wolgograd (Stalingrad!!!) als Faustpfand genommen werden könnten. – Im atomaren Bereich dürften die Vorwarnzeiten sich im Vergleich zu den PershingII/SS20 der Achtziger noch weiter verkürzen, wenn NATO die „Dark Eagle“ (Dunkler Adler) genannten Überschall-Mittelstreckenraketen in Europa stationieren sollte (Info entnommen aus dem Positionspapier Juni 2022 des Bundesausschuss Friedensratschlag; bei Eingabe des Suchbegriffes tauchen ganz viele Artikel aus dem Anglosächsischen auf mit jubelnden Darstellungen der Waffe).
Oder, etwas weniger unwahrscheinlich:
Lokal begrenzte Vorstöße gegen St. Petersburg (Leningrad) und Wolgograd (Stalingrad) zwingen den russischen Generalstab, von anderen Fronten dorthin Verstärkungen zu schicken. Es folgt – ähnlich wie jetzt in der Ukraine – ein Abnutzungskrieg, kein eindeutiger, schneller Erfolg einer Seite.
Durch das Entblößen anderer Fronten jedoch eröffnen sich dort für NATO Schwachstellen beim Gegner, in die man dann mit der Masse der kontinentaleuropäischen Armeen und weiterer Zuführung aus USA „hineinstößt“, wie es so schön heißt. Falls der russische Generalstab z.B.Truppen aus dem Mittelabschnitt abzieht, stünden gerade aus Richtung Polens dann massiv die o.g. Kontinentaleuropäer bereit.
Und damit bin ich bei der „Perzeption“ (Wahrnehmung) durch den Gegner
Nichts ist für einen im Militär Führenden so wichtig, wie eine möglichst treffende Wahrnehmung des Gegners, man nennt das Perzeption.
Lt. russischer Militärdoktrin werden Atomwaffen eingesetzt, wenn die Existenz Russlands bedroht sein sollte. Im ersten der angenommenen Fälle könnte das noch zweifelhaft sein, in den drei anderen Fällen wäre dieser Fall ganz ohne Zweifel gegeben.
Die im ersten Vergleich zur russischen Armee noch wenig bedrohliche Vergrößerung der Schnellen Eingreiftruppe entpuppt sich also eher als eine Variante der „Risikoflotte“ von vor 1914: natürlich war die kaiserlich-deutsche Flotte zahlenmäßig kleiner als die der Briten, nur etwa 2/3. Wenn man aber berücksichtigt, dass deren Flotte auf dem gesamten Erdball verteilt war, so konnte die „kleinere“ kaiserliche Flotte den Kern der „Homefleet“ vor dem Mutterland schlagen. Auch hatten die Schiffe des Kaisers in Teilbereichen technologische Überlegenheit über entsprechende Einheiten der Royal Navy.
FAZIT
Mich erstaunt abschließend noch, dass kein Redaktionsmitglied in der WAZ/Funke-Medien-Gruppe diese Brisanz erkennt.
Postscript vom 30.6: Die WAZ hat in ihrer heutigen Ausgabe nichts zu dieser neuen Qualität der Bedrohung der Existenz Russlands. Der jetzige Regionalkrieg gegen die Ukraine erfüllte dieses Kriterium übrigens nicht, er trifft Russland aus militärischer Sicht an einer Stelle/Front peripher.
Mit den 300 000 (plus den HIER genannten Erweiterungen) kann Russland zentral getroffen werden.
Ein kleiner Lichtblick: Lt. Aussage des Befehlshabers des Allied Air Command in Ramstein wird die komplette Umstellung Jahre dauern.
Politisch würde das aber Jahre der weiteren Anspannung und des weiter steigenden Drucks bedeuten. Die russische Führungsriege kommt ins Alter; ob diese das noch jahrelang aushält???
Oder doch eher aufhört, politisch zu denken, wie ich dies in meinem Artikel „Opfergang“ beschrieben habe, und nur noch „die Tür hinter sich (möglichst knallend) zuschlagen will“?????
Autor dieses Artikels ist:
G. Jankowiak
Sodinger Str. 60
44623 Herne