Wahrheitsfindung und die Kenntnis historischer Kerndaten
Der Anlass
ZDF-heute-journal, 10.6.’22, die erste Minute: Moderatorin Marietta Slomka verkündet mit ernster Miene:
„Guten Abend. Der gestrige Auftritt von Wladimir Putin hallt nach. Dass er sich mit Zar Peter dem Großen verglich, der einst von Schweden russische Erde zurückgeholt habe (Slomka betont das „zurückgeholt“), das sind Töne, die im Westen Europas verblüffen mögen, im Osten aber nur bestätigen, was man dort schon seit langem sagt, dass die Eroberung der Ukraine Putin bei Weitem nicht genügen würde.
Dort kommen seine Truppen allerdings weiterhin nur langsam voran.“
Huh, der Eindruck dieser Worte ist immens, das heißt: unermesslich.
Zu prominenter Zeit und an prominenter Stelle, nämlich DIREKT nach der Begrüßung, verkündet die prominente Moderatorin solch grausame Aussichten. Diese Aussichten hat sie aus einem Statement des russischen Präsidenten abgeleitet. Dort muss er wohl etwas inhaltlich Ähnliches gesagt haben – ich hatte noch keine Zeit, mir das Original zu besorgen.
Slomka suggeriert aber, dass der Zar sich von Schweden etwas „zurückgeholt“ habe. Man könnte denken, dass er also kriegerisch in Schweden tätig war. Aktuell, nicht wahr??? Denn das heutige Schweden fühlt sich auch von Russland bedroht und hat die Aufnahme in die NATO beantragt. Also bedroht Putin wie Zar Peter dieses Schweden.
Nun, wir wollen die Worte der Moderatorin einer Faktenkontrolle (fact-check) zu unterziehen.
Der Fakten-Check:
- Der Sachverhalt mit Peter I. und Schweden und „russische Erde“ ist gut 300 Jahre alt. Deshalb sollte Frau Slomka oder deren Redaktion schon mal genauer nachforschen – so was haben die ja sicher nicht präsent.
- Damals tat „Schweden“ eigentlich nichts, umso mehr aber dessen (leicht wahnsinniger) König Karl XII. Der hatte schon in den Jahren davor so alles besiegt, was man im Ostseeraum besiegen kann. Die Feldherren des Westens, die damals gerade im Spanischen Erbfolgekrieg beschäftigt waren, Marlborough und Prinz Eugen, fürchteten schon, dass der umtriebige Karl sich irgendwo bei ihnen einmischen könnte – aus Mangel an kriegerischer Betätigung im Osten. Deswegen reiste Marlborough 1707 zu Karl, und es gelang ihm, den König zu überreden, sein „Hobby“ doch weiter im Osten auszutoben.
- Karl zog also mit seiner sehr kleinen, aber aus Veteranen bestehende Armee nach Russland. (Ab jetzt kürze ich ab.) Karl geriet immer tiefer ins „russische Land“, bis nach Poltawa (heute: Ukraine), wo Zar Peter und dessen nach westlichem Muster neu aufgestellte Armee Karls zusammengeschmolzene Haufen durch ihre schiere Zahl erdrückte.
- Der König floh (unter Zurücklassung des Rests seiner Armee – Parallelen zu Napoleon 1812 sind nicht zufällig!!!) zu … dem osmanischen Sultan, der ja zu dieser Zeit im Süden der heutigen Länder Ukraine und Moldawien und Rumänien herrschte.
- Irgendwann floh Karl dann zurück nach Schweden, wo er erneut … natürlich Krieg führte und bei einer Belagerung tödlich getroffen wurde.
So, was habe ich jetzt „bewiesen“:
Zar Peter, auf den sich Putin ja laut Slomka bezogen haben soll, führte gegen einen bis dahin nur durch Siege bekannten Herrscher aus Schweden einen Verteidigungskrieg. Er war also vom „Westen“ (aus damaliger russischer Sicht) angegriffen worden. Deshalb verbietet sich zumindestens Frau Slomkas betontes „zurückgeholt“, weil der Zar ja tatsächlich dieses Gebiet (und die anderen von Karl eroberten Gebiete, die vorher ihm, dem Zaren, gehört hatten) zurückgeholt hatte. Frau Slomkas Methode nennt man Suggestion.
Dieser Krieg kulminierte in einem Gebiet, bei Poltawa, das heute zur Ukraine gehört, damals jedoch– in diesen dynastischen, nicht nationalen Zeiten – lt. Schulatlas Zar Peter gehörte.
Es gehört schon eine Menge an historischer Unkenntnis oder böser Absicht dazu, aus diesen Ereignissen das zu schlussfolgern, was Slomka/heut-journal suggerieren: nämlich dass „die Eroberung der Ukraine Putin bei Weitem nicht genügen würde“.
Auch zeigt sich in den weiteren Worten eine Unfähigkeit in einfacher Logik – oder die Verachtung des Denkvermögens der Zuschauer: Derselbe Putin, den man hierzulande so gern dämonisiert, der in Nachfolge des berühmtesten Zaren noch viel mehr als die Ukraine erobern wollen soll, ja, der kommt in Frau Slomkas nächstem Satz „weiterhin nur langsam voran“.
Ich möchte hinzufügen: und er kommt „weiterhin nur langsam voran“ unter wesentlicher Schwächung seiner durch die Fakten bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit schon ent-dämonisierten Armee.
Die einfache, gerade Logik wäre gewesen: Peter konnte mit seiner neu aufgebauten Armee nach dem Sieg über Karl XII. an weitere Eroberungen denken — Putin würde sich allein schon an der Ukraine verschlucken, wenn es ihm denn gelingen sollte (und so etwas suggeriert Slomka), dieses riesige Land zu besetzen. Ich hatte schon im Dezember auf die erfolgreiche Guerilla-Tradition in der Ukraine verwiesen.
Historisches Kern-Wissen
Und da es Frau Slomka/der heute-Redaktion schon mal an historischem Wissen mangelt (oder sie absichtlich ihre Infos selektieren), sei ihnen hier nachgeholfen:
1610-1612: Truppen des polnischen Königs besetzen Moskau (= Invasion)
1709: Karl XII kommt bis Poltawa (=Invasion)
1812: Napoleon kommt bis Moskau (=Invasion)
1918: kaiserlich-deutsche Truppen erobern die Ukraine
1920: Truppen des neu gegründeten Polen stoßen bis östlich Minsk(= Invasion) vor und besetzen Kiew/Kijiw. Entgegen unserer Erwartung jetzt wollten die damaligen Ukrainer keine Befreiung durch das damals sehr nationalistische Polen Pilsudskis
1941: die Wehrmacht Nazi-Deutschlands entfesselt den Vernichtungskrieg gegen alle Völker der Sowjetunion (= Invasion).
Was sollte man methodisch für eine Friedens-Führung aus diesem Beispiel des heute-journals lernen?
Zunächst einmal:
- Keine suggestiven Formulierungen, die überraschend und deswegen attraktiv wirken. Tatsächliche Situationen sind meist kompliziert und benötigen eine umständliche Darstellung („umständlich“ kommt von „Umstand“, man muss also die Umstände eines Ereignisses/einer Entwicklung möglichst vollständig schildern)
- Journalisten sollten eine umfassende Bildung nachweisen müssen, besonders in ihrem gewählten Spezialgebiet, so Wirtschaftsjournalisten in der Ökonomie und politische Journalisten in der Geschichte, der Sprache und der Politik derjenigen Region, über die sie berichten. Moderatoren sollten so viel Allgemeinwissen haben über das jeweilige Topthema, dass sie bemerken, wo ihnen etwas Selektives vorgelegt wird: So hätte Slomka merken müssen, dass da auf etwas zwischen Russland und Schweden z. Zt. von Zar Peter I. angespielt wurde, was sie so nicht verstehen und deswegen auch nicht präsentieren konnte.
- Menschen, die weite Kreise der Bevölkerung in deren Bild von der Welt beeinflussen, müssten wenigstens befähigt sein zu erkennen, wenn etwas seltsam, unlogisch, lückenhaft, interessengebunden ist. Dies gilt für mich insbesondere für Journalisten des öffentlich-rechtlichen Sektors.
Sie sollten sich bemühen, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Dort, wo das wegen der aktuellen Geschehnisse oder der geschichtlichen Quellenlage schwierig/unmöglich ist, muss dies auffällig (expressis verbis) angegeben werden. Minimalprogramm wäre, dass Journalisten mit einer Art „Takt des Urteils“(Clausewitz) merken, dass etwas falsch, selektiv, suggestiv ist.
EXKURS zum Thema WAHRHEIT und Wahrheitssuche
Denke ich etwa, dass es so etwas wie „Wahrheit“ gibt?
Ganz viele Autoritäten halten dies für unmöglich, und auch meine Erfahrung weist in diese Richtung. Der Anspruch der „Prawda“ (= Wahrheit) ist ja gründlich daneben gegangen.
Aber: Es gibt aus den Erfahrungen anderer Kontinente das Instrument der „Wahrheitskommissionen“ nach großen Katastrophen. Deren Erfolge scheinen zumindestens zu belegen, dass ein gemeinsamer Versuch früherer Konfliktparteien, den Konflikt auf-zu-rollen, uns in einigen Bereichen der Wahrheit näher bringt oder uns lehrt, wo wir bescheiden feststellen müssen, dass es in der jeweiligen historischen Situation meist keine eindeutige Zuordnung der Konfliktparteien nach „100 % schuldig“ oder „100% unschuldig“ gibt.
Ich hatte als Erfahrungsschatz die Wahrheitskommissionen aus anderen Weltteilen genannt. Ich möchte anhand zweier Ereignisse aus der unmittelbaren deutschen Geschichte illustrieren, was ich meine:
1965 veröffentlichten die polnischen Bischöfe ein Versöhnungsangebot an ihre deutschen Kollegen. Dies war eine ausgestreckte Hand der Seite, die eigentlich Grund genug gehabt hätte, keinen Schritt auf die (deutschen) Täter zuzugehen.
In Folge der Ostverträge gab es deutsch-polnische Schulbuchkommissionen. Hier konnten für die Bildung der kommenden Generationen die schlimmsten Einseitigkeiten auf beiden Seiten abgebaut werden. – Übrigens gab es diese Kommissionen während der Blockzugehörigkeit beider Länder, also während die Blöcke sich militärisch und ideologisch schärfstens gegenüberstanden
Der Wert der „Wahrheit“
Man stelle sich vor, was die Ausstrahlung dieses Abschnittes des „heute-journals“ im russischen Fernsehen für die Propagandisten Moskaus für ein gefundenes Fressen wäre: Sie könnten wieder darauf hinweisen
- Dass der Westen Fakten verdrehe;
- Dass der Westen die historischen Erfahrungen Russlands verschweigt.
Insofern ist es im eigenen Interesse, dass man nachweisen kann, dass man sich der „Wahrheit“ so weit wie möglich genähert hat oder wenigstens glaubhaft nachweisen kann, sich gewissenhaft darum bemüht zu haben.
Das ist so ähnlich wie Rüstungsindustrie ohne Bestechung anderer Regierungen zum Zwecke der Auftrags-„Sicherung“ … Aber dazu anhand der Erinnerungen eines Krupp-Direktors in einem anderen Artikel nächstens.
Nachtrag zum Journalismus:
Wenn Frau Slomka/die heute-journal-Redaktion einen umfassenden historischen Blick hätten, hätten sie gerade zum 10.6. die Großdemonstration vor 40 Jahren erwähnt.
Und nochmals zum „umfassenden historischen Blick“: Ich möchte fast wetten, dass die Genannten am kommenden 22.6. NICHT den Überfall Nazi-Deutschlands und den folgenden Vernichtungskrieg und dessen Folgen für die heutigen Kontrahenten Ukraine und Russland thematisieren werden. Warum? Vielleicht, weil der 22.6. in ihrer Bildung gar kein Kerndatum darstellt!!! (Die andere Bedeutung des 22.6., die des Jahres 1944 verlange ich ja schon gar nicht mehr.)