Gerade schlägt mir mein Browser vor, einen Artikel aus der Online-Ausgabe des Magazins „Der Spiegel“ zu lesen. Eigentlich bin ich da ja mittlerweile skeptisch, aber die reißerische Überschrift lässt mich dann doch den Artikel öffnen. Er ist von einem Markus Kaim, Mitarbeiter gleich dreier Forschungsinstitutionen, auch international. Kaim wird auch öfter in Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Sender interviewt. Der Artikel selbst ist in keiner Weise reißerisch wie die Überschrift – wohltuend!!!
Hauptthesen des Artikels sind:
Deutschland scheint in seinen politischen Kriegszielen zu schwanken (Scholz-Zitat über Russland, das nicht gewinnen, und Ukraine, die nicht verlieren dürfe)
Diese Unschärfe schlägt durch auf die im Krieg zu wählenden Optionen
Ein oberstes Kriegsziel muss aber von der Politik festgelegt werde, sonst droht auch innenpolitisch der Verlust an Unterstützung
Drei Bereiche sind besonders unklar:
Die territoriale Gestaltung zwischen Russland und Ukraine
Die innere Verfasstheit der Ukraine, insbesondere ihr Verhältnis zu den umstrittenen Gebieten des Donbass (die Probleme, die in Minsk schon besprochen wurden; Rolle der UNO und der OSZE)
Wie soll das Verhältnis der Ukraine zur NATO aussehen (Präs. Selenskyj strebt lt. Artikel keine NATO-Mitgliedschaft an)
Wie soll der Platz Russlands aussehen: „Partner, Rivale, Gegner“
Deutschland muss einen Spagat schaffen zwischen der Selbstbestimmung der Ukraine über ihre Zukunft und den doch auch noch weitergehenden Interessen Deutschlands
So weit die Thesen des Artikels!
Nun, viel schwieriger dürfte die Gestaltung des Vertragswerkes damals in Versailles 1919 auch nicht gewesen sein!!!! Das war jetzt ein Scherz, aber dieser soll verdeutlichen, dass ja allein schon die von M. Kaim genannten Punkte oft der Quadratur des Kreises gleichen: wie viele Jahre ist über den Status der ukrainischen Ostgebiete und den der Separatisten in Minsk verhandelt worden???
Dann potenzieren sich diese Schwierigkeiten ja noch durch drei weitere Faktoren:
- Die jeweils aktuelle Kriegslage (momentane gute oder schlechte Frontlage) der Ukraine
- Die jeweils aktuelle Kriegslage (momentane gute oder schlechte Frontlage) Russlands
- Die Verfasstheit der NATO: Natürlich ist es hilfreich, wenn Berlin schon mal eine Antwort auf, eine Haltung zu den von M. Kaim genannten Probleme hätte. Nur bedeutet dies nicht, dass diese schon im Kreis der jetzt 31 Staaten akzeptiert wäre: Was wollen die USA; welche europäischen Länder werden die Position der USA in Europa zur der ihren machen; welche vielleicht noch radikalere Ziele propagieren (baltische Staaten? Polen?)
Es rächt sich jetzt schon, dass die deutsche Regierung in so vielen Punkten bisher den Radikalen nachgegeben hat. Dadurch fehlt schon einiges an Möglichkeiten für einen Kompromiss.
Auch hatten wir hier schon früher kritisiert, dass in keiner Weise der jetzigen russischen Regierung oder einer möglichen neuen Regierung dort signalisiert worden wäre, welche seit dem 24. Februar getroffenen Straf-Maßnahmen in welchen Situationen zurückgenommen werden könnten – etwas, das man früher auch das Bauen „Goldener Brücken“ genannt hat.
Welch riesige Aufgabe da vor uns steht, zeigt ein Blick auf ein historisches Beispiel: Das Gerangel um Friedenslösungen im Jahr 1917, dem sogenannten „Epochenjahr“ mit der russischen Revolution, den Friedensnoten der Mittelmächte, der Entente, des Papstes, der Bolschewiki, Wilsons und mit dem Kriegseintritt der USA. Ich will dazu nur kurze Passagen aus einem Klassiker zitieren, aus Franz Mehrings Artikel „Friedensfragen“ vom März 1917:
„Der Mangel positiver Friedensvorschläge hat der Entente den Anlass oder mindestens den vorwand geboten, das deutsche Friedensangebot abzulehnen, wodurch sie nun ihrerseits in die Notwendigkeit versetzt wurde, ihre Friedensvorschläge zu veröffentlichen, wie es in ihrer Note an Wilson geschehen ist.
Die ausschweifende Natur dieser Friedensvorschläge hat jene lebhafte Entrüstung erweckt, die sich nicht zuletzt in der sozialdemokratischen Mehrheitspresse entladen hat. Diese Entrüstung ist jedoch ein äußerst wohlfeiler Genuss, wenigstens für jeden, der ernsthaft den Frieden will. Viel notwendiger und nützlicher, wenn auch immerhin schwieriger ist es , sich klarzumachen, weshalb und wieso sich die Entente dermaßen überschlagen hat, und die Schlussfolgerungen zu ziehen, die vernünftigerweise daraus zu ziehen sind. (…)
In der Tat zeigen sie (die Friedensvorschläge der Entente, G.J.) die innere Schwäche des Zehnverbandes, dieselbe Schwäche, die allen kriegerischen Koalitionen anhaftet. Verbünden sich mehrere Mächte für einen Krieg, so beseitigen sie damit in keiner Weise die widerstreitenden Interessen, die zwischen ihnen selbst bestehen, sondern sie stellen diese zunächst nur zurück gegen den gemeinsamen Kriegszweck. Einig sind sie nur darin, den gemeinsamen Gegner niederzukämpfen, und auch darin brauchen sie nicht vollkommen einig zu sein. Schon die Frage, bis zu welchem Grade der Gegner niedergekämpft werden soll, kann zum Bruch einer Koalition führen.“ (Folgt dann das historische Beispiel Friedrichs II. von Preußen, der das Bündnis mit Frankreich gegen Österreich 1741 verlässt, und mit Österreich einen Separatfrieden schloss.)
Aus: Franz Mehring, Zur Kriegsgeschichte und Militärfrage. Hrsg. Höhle Th. et al.. Berlin (Ost) 1976, S. S. 447f.
Aus diesen Gedanken und dem Wissen über die tatsächlichen Schwierigkeiten bei dem Aushandeln der späteren Verträge von Versailles, Sèvres und Saint-Germain dürfte jedem klar sein:
Schon während eines Krieges müssen die Friedensverhandlungen und der spätere Friedenszustand bedacht werden.
Hierbei ist (fast) mehr zu bedenken, ist mehr Energie und Phantasie aufzuwenden als für die Führung eines Krieges.