Eine Satire aus dem „Kladderadatsch“
In einem früheren Artikel hier im Blog namens „Kairos“ hatte ich am 10.Mai 2022 schon auf die Wahl des rechten Zeitpunktes für politische (und militärische) Aktionen hingewiesen. Dort hatte ich schon angedeutet, in welch geradezu himmlischer Ruhe die Politiker des vorindustriellen Zeitalters ihre Handlungen vornahmen. Den Nachrichten-Stress, dem ihre Nachfolger des 21. Jahrhunderts ausgesetzt sind, kann sich jeder von uns anhand des eigenen Lebens ausmalen. Ob man in dieser Atmosphäre noch „klüglich erdachte(s) Gesetz“ ersinnen kann?
Der folgende Text fiel mir auf, weil er eben genau den Zeitraum beleuchtet, in dem Medien außerhalb der Akte in das Leben eindringen.
Und warum sollte hier im Blog nicht auch einmal etwas Scherzhaftes Platz finden??? Dieser hier folgende Scherz hat Tiefgang!
Bismarck am Telephon1
Ein pommer’sches November-Idyll
Drei Uhr Nachmittags war’s, schon grüßte mit matteren Blicken2
Helios Pommerns Gefilde, dem Ziel sich nahend der Reise,
Siehe, da saß im erwärmten Gemach der gewaltige Kanzler,
froh des genossenen Mahls; auf schön durchbrochenem Tische
Stand mit dem Rest noch die Flasche, die bauchige, die der Champagne
Kundige Söhne gefüllt mit dem Nektar sterblicher Menschen.
Langsam schlürfte der Herrscher Varzins3; die Durchlauchtige Linke
hielt das geglättete Rohr der weithinragenden Pfeife,
der er gewaltige Wolken entzog und gekräuselte Ringe.
Vor ihm lagen die Mappen gehäuft, die der eilende Bote
Gestern gebracht von dem fernen Berlin; drin ruhte gar manches
Klüglich erdachte Gesetz, das die Ordnung gründet der Kreise,
Bei der vergänglichen Schaar der ersprießlichen Steuerprojekte.
Aber es rührte verständigen Sinns der gefürchtete Kanzler
Nicht an der Mappen Verschluß; behaglich sah durch die blauen
Wolken ins Land er hinaus – so schaut von dem Haupt des Olympos
Milde Kronion4 hinab aus dem lichten Gewölke des Lenzes.
Siehe, da trat leichtgleitenden Schritts in die Thüre der Diener,
Neigte sich tief und meldete dann, am Thore des Schlosses
Ständen drei Männer, gesandt von dem vielerfindenden Stephan5.
Freundlich nickte der Fürst, und Jener enteilete. Tief sich
Neigend erschienen sogleich die trefflichen Jünger des Mannes,
Welcher erfindenden Sinns dem lieblich tönenden Posthorn
Und dem galvanischen Strom6 in den Gränzen gebietet des Reiches,
Doch in den Stunden der Muße betreibt der verdorbenen Sprache
Reinigung er und den grausigen Mord des verdächtigen Fremdworts7.
Zierliche Kästlein trugen die Drei und blankes Geräthe;
Und es begann mit der Rede der Aelteste drauf – ein „Geheimer“8
War’s, ihn schmückten das Tuch des Gewands hellstrahlende Orden.
Dieser begann mit der Rede, gespannt aufhorchte der Kanzler:
„Durchlaucht nahen wir uns mit dem sinnig erfundenen Werkzeug,
Welches das flüchtige Wort in unendliche Ferne vermittelt
Schnell wie der Blitz; Telephon meist nennt es moderne Verbildung,
Doch in der Sprache des Dienstes, der reinlichen, wurde das Werkzeug
„Fernhinsprecher“ getauft. Wir nahen mit ihm und der Bitte,
Durchlaucht wollen mit eigenem Ohr das gepriesene Wunder
Jetzo versuchen. Hier hab ich den Draht, dess‘ anderes Ende
Mündet im fernen Berlin im Sitzungssaale des Landtags.“ –
Freundlich nickte der Fürst; dem geglätteten Kasten enthob darauf
Jener ein zierliches Rohr, dem ähnlich, welches der schwer nur
Hörende Sterbliche braucht, die zerflatternden Töne zu sammeln,
Knüpfte das Ende des Drahtes daran und reicht‘ es dem Fürsten.
Dieser erhob es zum Ohr und lauschte gespannt in die Mündung,
Heller und heller erschien sein Gesicht, dann sprach er mit Lachen:
„Wirklich, es geht! Wer hätte gedacht, im friedlichen Pommern,
Je zu vernehmen die Rufer im Streit in dem Saale des Landtags?
Wirr erst erklang es, wie Brausen des Meers, wenn der herbstliche Nordwind
Drängt ans Gestade die Flut; doch deutlicher werden die Töne.
Jetzo erkenn‘ ich das scharfe Organ – fürwahr es ist Windthorst9!
Über den Nothzustand und die gräuliche Kirchenverfolgung
Spricht er, natürlich voll Ernst; dazwischen ertönen des Lachens
Schallende Salven, erquicklich dem Ohre des gläubigen Witzbolds!
Jetzt bricht er ab, ein Andrer versetzt mir den Draht schon in Schwingung.
Das muss Schorlemer sein! Haha, da tönt schon die Glocke
Gellend dazwischen, ernst redet ihm zu der verständige Rudolf10.
Jetzt noch Lasker11 sogar? Hilf Himmel, das wird mir bedenklich!
Zwei Minuten noch setz‘ ich daran, dann schließ‘ ich für heute;
Doch was ist das? Wo will er hinaus? Er rückt mir den Welfen=
Fonds auf den Leib? Längst könne der Staat schon seiner entrathen,
Lauter ertöne die Stimme des Landes, es könne nicht ferner
Mehr so bleiben; gefährdet schon sei die Moral der Regierung!
Sicherheit müsse man haben, daß nicht – – er spreche im Namen
Seiner Partei!12 — Ich danke, ihr Herren, für diese Erfindung,
welche die friedlichen Tage mir stört des erquicklichen Urlaubs!“ –
Sprach’s und warf auf den Boden mit Macht die gebrechliche Röhre,
Daß sie zerbarst, und in Wimmern erstarb die gediegene Rede.
Zornig bäumte sich auf das dreigetheilte Vermächtniß13,
Welches das scheidende Haar auf dem mächtigen Haupte zurückließ;
Aber wie Donnergepolter ertönt‘ es unter dem Schnauzbart:
„Packen Sie ein, meine Herrn, und sagen Sie Stephan, ich danke,
Danke recht sehr für das Ding! Adieu, und glückliche Reise!“-
Zagend enteilten dem hohen Gemach die verdrießlichen Männer,
Die mit dem Fernhinsprecher gesandt der erfindende Stephan.
Aber der Kanzler ergriff voll Unmuths wieder die Pfeife;
Mächtige Wolken verstreut‘ er ringsum, draus blickt‘ er hernieder,
Wie von dem Haupt des Olymps der Gebieter der Götter und Menschen,
Wenn aus dem dunklen Gewölk er die zündenden Blitze versendet.
Aus: Facsimile – Querschnitt durch den Kladderadatsch. Hrsg. Liesel Hartenstein. München, Bern, Wien 1965, S. 117. (ich habe die originale Rechtschreibung (Gränze statt Grenze) und Interpunktion mit vielen Semikola beibehalten)
1Tatsächlich verbreitete sich der „Fernhinsprecher“ schon ab 1877 in Europa. Graham Bell aus den USA hatte es soweit verbessert, dass es gebrauchsfertig war.
2Man lese diese Verse etwa so, wie man den guten Homer in der altertümlichen Übersetzung von Voß lesen sollte: ‚Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle‘. Also mit sechs betonten Silben, also deutsche Hexameter. Und ich bin mir sicher, dass die Leute vom Kladderadatsch genau diese Nähe zum Homer so beabsichtigten, wie dann auch die Verse mit der Erwähnung von Zeus und seinen Blitzen zeigen. Oder direkt anfangs die Beschreibung, wie der Sonnengott den Abend einleitet.
3Varzin: Bismarcks Gut in Pommern
4Kronion: Einer der Beinamen des Zeus
5Stephan: Ernst Heinrich Wilhelm Stephan (1831-1897) war laut Wikipedia Staatssekretär (Minister) des Reichspostamtes. Am 26. Oktober 1877 ließ er erste Fernsprechversuche in Berlin zwischen dem Generalpostamt und dem Generaltelegrafenamt durchführen. Dieses Datum gilt als Geburtstag der Telefonie in Deutschland. Zwischen 1877 und 1881 baute er mit der leitenden Absicht, „jedem Bürger womöglich ein Telephon zu jedem anderen zur Disposition zu stellen“, das Telefonnetz in Deutschland auf.
6Das Reichspostamt war wohl in die Abteilungen Briefpost und Telegraphie gegliedert. Auf die Briefpost spielt das „Posthorn“ an, auf die Telgraphie wohl der „galvanische Strom“.
7Stephan war auch als Sprachpurist tätig und dafür bekannt.
8In der damaligen Ämterhierarchie gab es ja sogenannte „Geheime Räte“. Diese werden wohl hier gemeint sein.
9Der Vorsitzende der katholischen Zentrumspartei
10Wohl der damalige Parlamentspräsident in seiner Funktion als Leiter der Sitzung.
11Eduard Lasker (1829-1884), einer der Anführer der Nationalliberalen Partei.
12Die Konjunktive verraten, dass Bismarck hier das wiedergibt, was er per Telephon/Fernhinsprecher von Laskers Rede hört
13Bis auf wohl eine Ausnahme wurde Bismarck im Kladderadatsch immer mit drei (restlichen) Haaren auf dem Kopf abgebildet.