Die Friedensführungs-Energien auf dem Prüfstand (8. Mai 2024 – 79 Jahre nach dem 8. Mai 1945)


Woran soll man diese Energien für die Friedensführung messen? Mir fällt eine Prophezeiung ein, die ein Soldat von höchster Professionalität im Jahre 1890 äußerte. Es wäre doch interessant zu untersuchen, ob dessen Prophezeiung über die Verderblichkeit eines zukünftigen Krieges die Energien für Friedensführung damals genügend aktivierte.

Ich spreche vom Kriegsbild eines zukünftigen Krieges aus der Sicht von Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke1.

Moltke warnte vor den Dimensionen und der Dauer des zukünftigen europäischen Krieges:

„(…)wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegen einander in den Kampf treten“.

Wenn wir diese Prophezeiung einmal völlig ernst nehmen, so müsste man die Anstrengungen der leitenden Politiker in der Julikrise 1914 an diesem Maßstab messen: Es droht im Falle eines Krieges Gefahr für „die Fortdauer der gesellschaftlichen Ordnung und der Zivilisation“, so Moltke in derselben Rede.

Haben diese Politiker genug Energie in die Friedensführung gesteckt, hatten sie in strenger geistiger Disziplin2 die wahrscheinlichsten Konsequenzen eines europäische Krieges bis zu Ende gedacht?

Dann hätte zum Beispiel die deutsche Regierung nicht erst auf die britische Initiative vom Ende der Krise warten dürfen, die Initiative zu einer europäischen Konferenz – sie hätte sie selbst vorschlagen müssen, aber direkt unter dem noch frischen Eindruck des Attentats auf den österreichischen Thronfolger. Andere Möglichkeit: sie selbst hätte für Wien einen Text für ein Ultimatum an Serbien formulieren müssen – und nicht den Blankoscheck ausstellen für das unakzeptable Ultimatum. Übrigens wäre es auch hier um den Zeitpunkt gegangen – die Forderung nach einer Bestrafung der Attentäter und der Hintermänner wirkt anders, wenn sie direkt nach einer Tat gestellt wird und nicht vier Wochen danach kurz vor Ende eines Truppenaufmarsches um das Land herum, dem man die eigentliche Schuld gibt. (Bezüglich des Zeitfaktors verweise ich auf meinen Artikel vom Juni ’22: Kairos – rechter Augenblick.)

Gemessen daran erleben wir damals eine Führung, die schon die aktive Suche nach Friedenslösungen aufgibt, weil sie zu einem bestimmten Grade nur noch militärisch-präventiv denkt (‚besser jetzt als später‘) und dann auch noch Wunschvorstellungen huldigt über die Dimensionen und Dauer des Krieges.

Aktiv hätte die Suche nach Alternativen zur Kriegslogik sein müssen, da die Alternative des Krieges ja selbstzerstörerisch war!

Kurz: Damals waren die für eine Friedensführung nötigen gedanklichen Kräfte schon für den Weg der Kriegslogik gebunden bzw. verbraucht.

Einige Vergleiche zu den heutigen Verhältnissen:

  • „Dauer und (…) Ende nicht abzusehen“, „gerüstet wie nie zuvor“: Das Ende ist heute fast unvorstellbar, da ja der Unterlegene in einem gesamteuropäischen Krieg (mit US-Beteiligung) mit ziemlicher Sicherheit der Tendenz zum Äußersten nachgeben wird. Diese Tendenz, die Kriegen innewohnt, ist einer der Kernsätze bei Clausewitz. Umso mehr müssten alle Aktivitäten auf Deeskalation, auf Lösungen gemäß der Friedenslogik gerichtet sein.
  • Eigentlich müsste man heutzutage mehr Aktivität auf dem Weg der Friedenslogik erwarten. Denn: Damals war die Außenpolitik der meisten Staaten von Politikern geleitet, die einer absterbenden sozialen Schicht – dem Adel – angehörten, dessen männliche Angehörige zumeist durch den militärischen Beruf Unterhalt und Ansehen bezogen. Heute sind ja fast alle Politiker in irgendeiner Form auf demokratische Weise gewählt und abwählbar3, sie entstammen zumeist den Kreisen, die in einem Krieg am meisten leiden würden. Dennoch sind wir Zeuge einer Politik dieser Leute, die durch Unnachgiebigkeit gekennzeichnet ist: ohne aktive Suche nach akzeptablen Kompromissvorschlägen zielen sie nur auf vollständige Unterwerfung des Gegners unter ihre Forderungen; sie machen sich selbst zu Sklaven von Zwängen, wie sie die komplexen Aufrüstungs-Systeme heutzutage mit sich bringen, wenn man diese einmal angestoßen hat4.
  • Kontrolle der Exekutive durch die Legislative? 1914 hatten in allen monarchischen Staaten die Abgeordneten wenig bis keinen Einfluss auf die Exekutive im Bereich der Außenpolitik. Heute ergehen sich die Abgeordneten, die die in der Exekutive handelnden Politiker eigentlich kontrollieren oder wenigstens mäßigen sollten, in fast peinlichen Wiederholungen der Reichstagssitzung vom August 19145.
  • Man spricht gerade hier im Westen besonders jetzt dauernd von „Demokratie“. Nun, es herrscht eine höchst eingeschränkte Demokratie, wenn die Bevölkerung in der wichtigsten aller Fragen – der von Krieg und Frieden – keine direkte Einflussmöglichkeit hat. Im Vergleich dazu hatten sogar diejenigen antiken Stadtstaaten, deren Politik von Aristokraten geleitet wurde, mehr „Demokratie“, denn dort beschloss die Volksversammlung über Krieg und Frieden.
  • ——————————————-

1 Die Rede des 90-jährigen Feldmarschalls findet man in: Verhandlungen des deutschen Reichstages, 8. Legislaturperiode 1890/92,1.- 6. Sitzung, Mittwoch, 14. Mai 1890. Ich will hier nicht verschweigen, dass Moltke durch die angeführten Gedanken Ersparnisse im Militärhaushalt verhindern wollte. Er war, seinem Stand und der Zeit gemäß, gefangen im Denken eines „Si vis pacem, para bellum“. Sein kurzfristiges Ziel war also wenig orientiert an der Friedenslogik, seine professionelle Einsicht in die Tendenzen zukünftiger europäischer Krieg deswegen aber dennoch so fundiert, dass die Realität 14 Jahre später ihn vollauf bestätigte. Zu „Si vis pacem, para bellum“ siehe meine Artikel hier im Blog vom 15.1. und 1.2.2024: Si vis pacem als Denkmodell (linear und dialektisch)

2 so 1935 sinngemäß Generaloberst Ludwig Beck. Wörtlich derselbe: „(…)Nichts wäre gefährlicher, als sprunghaften, nicht zu Ende gedachten Eingebungen, mögen sie sich noch so klug oder genial ausnehmen, nachzugeben oder auf Wunschgedanken, mögen sie noch so heiß gehegt werden, aufzubauen. Wir brauchen Offiziere, die den Weg logischer Schlussfolgerungen in geistiger Selbstzucht systematisch bis zu Ende gehen, deren Charakter und Nerven stark genug sind, das zu tun, was der Verstand diktiert.(…)“ (aus: Förster, Wolfgang: Generaloberst Ludwig Beck. Sein Kampf gegen den Krieg. Aus den nachgelassenen Papieren des Generalstabschefs. München 1953, S.43f.)

3Selbst der russische Präsident ist ja nicht durch Geburt und durch „Gottes Gnade“ in seiner Position

4Auch für diese „Zwänge“ haben wir einen klassischen Zeugen: den US-Präsidenten Eisenhower in seiner letzten Rede an die Bevölkerung der USA, Thema: Militär-Industrie-Komplex. Siehe hierzu meinen Artikel vom 4.4.2022: „Ein Kriegsgrund der letzten 100 Jahre …“.

5Siehe die Protokolle dieser Sitzung vom 4.8.1914 in: Verhandlungen des deutschen Reichstages, 13. Legislaturperiode, 1914/18.1, 1. und zweite Sitzung, Dienstag 4.8.1914 (digital: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003402_00014.html)


Autor dieses Artikels ist:

G. Jankowiak

Sodinger Str. 60

44623 Herne