Bei meinen Forschungen zum Peloponnesischen Krieg stieß ich vor kurzem ausführlicher auf den athenischen Politiker Kimon. Ich hatte hier einen Artikel zu dessen Konzept der Herrschaft der zwei Hegemonen/Führungsmächten veröffentlicht (Kimon – oder: bewusste Absage an Unilateralismus). Die besondere Einsicht Kimons bestand darin, dass er überhaupt die Möglichkeit leugnete, eine Macht allein könne den damals betreffenden Raum, also Griechenland, leiten oder ordnen.
Nun bin ich auf eine zweite Persönlichkeit aus Athen aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges gestoßen, der wohl eine ebenso interessante Idee zur Friedens-Bewahrung hatte: Nikias, Sohn des Nikeratos (um 470 – 413v.Chr).
Bevor ich diese Idee hier präsentiere, möchte ich zuerst noch etwas zum damaligen Historischen Kontext schildern. Ich zitiere dabei wörtlich aus der Biographie des Nikias von Plutarch.1
(Falls Sie nicht so viel lesen möchten, wählen Sie einfach die Passagen, die ich durch Kursivdruck kenntlich gemacht habe.)
„Diejenigen, die den Frieden in Griechenland am heftigsten bekämpften, waren Kleon und Brasidas, für die der Krieg ein Mittel war, um entweder – so für Kleon – die Schlechtigkeit (des Charakters, G.J.) zu verbergen oder – so für Brasidas – die Tapferkeit leuchten zu lassen. Denn dem einen gab er die Gelegenheit zu großen Schändlichkeiten, dem andern zu glänzenden Taten. Als nun beide zugleich in einer Schlacht, bei Amphipolis, gefallen waren, stand es so, daß die Spartaner schon lange den Frieden wünschten, die Athener nicht mehr so siegesgewiß und beide erschöpft und aus freien Stücken bereit waren, die Arme sinken zu lassen. Sofort bemühte sich daher Nikias, die beiden Staaten friedlich zusammenzuführen und auch die übrigen Griechen von ihren Leiden zu befreien, ihnen Ruhe zu verschaffen und so für die Zukunft eine feste Grundlage des Glückes zu legen. Die Besitzenden, die älteren Leute und die Masse der Bauern waren sowieso schon zum Frieden geneigt. Nachdem er nun auch noch mit vielen der anderen persönlich gesprochen und durch vernünftige Belehrung ihren Kriegseifer abgekühlt hatte, machte er jetzt auch den Spartanern Hoffnungen und mahnte sie und forderte sie auf, das Friedenswerk anzugreifen. Sie hatten Vertrauen zu ihm schon überhaupt wegen seiner billigen Gesinnung2 und besonders, weil er den bei Pylos Gefangenen und in Haft Befindlichen3 durch menschenfreundliche Teilnahme und Fürsorge ihr Unglück leichter erträglich gemacht hatte.
Sie (die Spartaner/Lakedaimonier und die Athener, G.J.) hatten schon zuvor einen Waffenstillstand auf ein Jahr geschlossen, währen dessen sie nun zusammenkamen, wieder die Freiheit von Furcht, die Muße und den ungestörten Verkehr mit Gastfreunden und Angehörigen genossen und sich nach einem vom Krieg und Greueln unbefleckten Leben sehnten, gern zuhörten, wenn Chöre Lieder sangen wie dieses:
„Ruhen soll mir der Speer, daß die Spinnen ihre Webe um ihn flechten“4,
gern sich auch an das Wort erinnerten, daß die Schläfer im Frieden nicht die Trompeten, sondern die Hähne wecken. Sie beschimpften also und verjagten diejenigen, welche behaupteten, es sei vom Schicksal bestimmt, daß der Krieg dreimal neun Jahre5 dauern müsse, traten in Unterhandlung um eine volle Verständigung und schlossen den Frieden ab. So kamen die meisten zu der Überzeugung, daß nun wirklich die Erlösung von den Leiden gekommen sei, und man sprach überall von Nikias, daß er ein Liebling der Götter sei, und daß sie ihn zum Lohn für seine Frömmigkeit6 gewürdigt hätten, daß das größte und schönste Glücksgut nach ihm benannt werde. Denn tatsächlich betrachteten sie den Frieden für das Werk des Nikias wie den Krieg für das des Perikles. Denn dieser hatte, so glaubte man, um geringer Ursachen willen die Griechen in großes Unglück gestürzt, Nikias aber sie bewogen, die größten Unbilden zu vergessen und wieder Freunde zu werden. Daher nennt man diesen Frieden noch bis heute den Frieden des Nikias.
Nachdem die Abmachung getroffen war, daß sie die Plätze und Städte, die sie einander abgenommen hatten, und die Gefangenen herausgeben sollten, und zwar so, daß diejenigen, die das Los traf, damit beginnen sollten, erreichte Nikias durch heimliche Bestechung, daß das Los die Lakedaimonier dazu bestimmte, mit der Herausgabe zu beginnen. Dies berichtet Theophrast7. Als es sich nun zeigte, daß die Korinther und Boioter mit den getroffenen Abmachungen nicht zufrieden waren und durch Beschuldigungen und Beschwerden den Krieg aufs neue zu entfachen suchten, gewann Nikias die Athener und Lakedaimonier dafür, zu dem Friedensvertrag noch ein Waffenbündnis zur Bekräftigung und festeren Bindung zu schließen, um so diejenigen, die dem Frieden nicht beitreten wollten, einzuschüchtern und aneinander stärker gebunden zu sein.“
So weit Plutarch in seinem Leben des Nikias zum Frieden des Nikias aus dem Jahre 421v.Chr.
Ich finde die Idee bemerkenswert, dass zwei Großmächte, die – nach entsprechenden Kriegserfahrungen – Frieden schließen, sich gleichzeitig auch als Hüter dieses Friedens verpflichten wollen. (Probleme und Voraussetzungen: siehe unten). Es ist bemerkenswert, denn das „Nikias-Konzeptes“ liegt immerhin über 2 Jahrtausende vor der Heiligen Allianz des frühen 19. Jahrhunderts, dem Konzept Metternichs, welches später H. Kissinger so sehr studierte.
Im hier betreffenden Fall fällt mir auf, dass es neben den Boiotern besonders die Korinther waren, die gegen ein Ende des Krieges waren. Die Korinther waren es auch, die vor dem Krieg die lautesten Ankläger Athens und somit die Propagandisten des Krieges waren. Sie zeigten also vor und nach dem Krieg keine Mäßigung, und insofern wäre ein mäßigender Einfluss der beiden Hegemone/Führungsmächte Sparta und Athen auf Korinth unbedingt nötig gewesen.
Die Boioter sind derjenige „Stamm“ der Griechen, der die Landschaft bewohnt, die an Attika im Nordwesten direkt angrenzt, der Hauptort Boiotiens das später für kurze Zeit mächtige Theben unter Epaminondas. Von der Lage her waren die Boioter also entweder „natürliche“ Verbündete Athens oder dessen Konkurrenten.
Für die Friedens-Führung wäre die Entstehung einer solchen Koalition zu Bewahrung von Friedensschlüssen (ich nenne es: Nikias-Konzept) abhängig von:
- dem Ausmaß des beidseitigen Überdrusses nach Jahren des Krieges;
- dem Ausmaß der materiellen und personellen Erschöpfung auf beiden Seiten;
- dem „Unentschieden“ bei der Erreichung der Kriegsziele beider (der peloponnesische Krieg war ein reiner Abnutzungs-Krieg ohne schnelle und durchgreifende Erfolge)
- der Existenz von Gruppen auf beiden Seiten, die einen Frieden wollen
- der Übereinstimmung dieser Gruppen darüber, dass es ein Verständigungs-/Kompromiss-Frieden sein dürfe/müsse, dass ein Sieg-Friede nach den Erfahrungen der 9 Kriegjahre nicht zu erwarten wäre
- der Existenz von Führungs-Persönlichkeiten auf beiden Seiten, die diese Idee von Frieden aktiv verfolgten
- diese müssten gute Kontakte und Ansehen/Sympathie bei der Gegenseite haben.
- der erkennbaren Wut größerer Volksschichten über diejenigen, die zum Kriege gehetzt haben
- „aneinander stärker gebunden zu sein“ – Es muss gemeinsame Interessen und Projekte geben, die solch eine Zusammenarbeits-Verpflichtung immer wieder durch Taten erneuert und persönliche Begegnungen mit sich bringt.
Historische Erfahrung des Scheiterns einer solchen Koalition
In einem der folgenden Artikel werde ich anhand von Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Buch V, 25-32, schildern, welche Faktoren zum schnellen Scheitern des Nikias-Konzeptes führten.
Und übrigens:
Weder bei Kimon noch bei Nikias werden deren Konzepte in den Wikipedia-Artikeln zu ihrer Person als besondere Tatsache entsprechend gewürdigt, sondern nur en passant erwähnt.
1 (Die Schwäche der Biographie rührt daher, dass Plutarch wesentlich später schrieb; auf alle Fälle aber schrieb er in Kenntnis mehrerer Gewährsmänner zu Nikias. In der Darstellung der Herbeiführung des Friedens hier folgt er in allen wesentlichen Punkten dem Thukydides, der ja Zeitgenosse des Nikias und der größte Historiker des alten Griechenlands ist.)
2Der Ausdruck in dieser Übersetzung von Konrad Ziegler vom Anfang der 50ger Jahre des 20. Jahrhunderts bezeichnet so viel wie ‚gemäßigte Gesinnung‘ oder ‚der gewöhnlichen Ethik entsprechende Gesinnung‘. Diese erstreckte sich bei Nikias nicht nur auf den privaten Bereich, auch in der Politik war er in Innen- und Außenpolitik ein Gegner der sogenannten Demagogen, wie es Kleon und Alkibiades waren. In Athens innenpolitischer Auseinandersetzung wurde er auch als Spartafreund angegriffen.
3Auf der Insel Sphakteria bei Pylos war es den Athenern unter Führung des radikalen Demokraten Kleon zum ersten Male gelungen, eine nennenswerte Anzahl der spartanischen Elitekrieger (Spartiaten) gefangenzunehmen. Hierbei zählten für Sparta schon Zahlen, die uns lächerlich erscheinen, da zu Beginn des Peloponnesischen Kriegs wohl nur noch 3 000 dieser bewusst gezüchteten und disziplinierten Spartiaten lebten.
4 So der Klassiker Euripides in Fragment 369, aus der verlorenen Tragödie Erechtheus
5Thukydides, der Zeitgenosse, schreibt im 5. Buch, Kapitel 26,4: „Ich erinnere mich, daß immer, zu Beginn des Krieges und bis er zu Ende ging, von vielen der Orakelspruch vorgebracht wurde, es sei bestimmt, daß er dreimal neun Jahre dauere.“
6Plutarch erwähnt gleich zu Anfang dieser Biographie Nikias Ernsthaftigkeit, Risikoscheu und, in Kapitel 4, Gottesfurcht, Dämonenangst und den Drang, den Götterwillen mit Hilfe von Elementen der Wahrsagerei zu erforschen.
7Gemeint ist Theophrastos aus Eresos (etwa 372-287), von der Insel Lesbos. Theophrast war als Schüler des Aristoteles und dessen Nachfolger in der Leitung der peripatetischen Schule des Aristoteles wohl nach dessen Tod der bekannteste Wissenschaftler des damaligen Griechenland. Genau die Stelle mit der „heimliche(n) Bestechung“ hat Thukydides als Zeitgenosse nicht!