Ein Despot ruft zur Abrüstung auf??? Ein Manifest von 1898 (13-12-23)


In diesem Artikel finden Sie das Original eines Abrüstungsaufrufes aus dem Jahre 1898, in der damaligen deutschen Übersetzung. Das Original stammt vom damaligen russischen Zaren Nikolaus II. bzw. von dessen Außenminister.

Jetzt könnten Sie fragen, was irgendein Text dieses Zaren hier in diesem Blog zu suchen hat und in der heutigen Welt noch an Bedeutung haben soll. Schließlich war dieser Zar der Selbst-Herrscher (Autokrat) eines total rückständigen Landes, in dem erst gut 30 Jahre zuvor formal die Leibeigenschaft seiner Bauern abgeschafft worden war. In ganz Europa war diese Rückständigkeit berüchtigt. Sie zeigte sich u.a.

  • in der weiteren Existenz eines absoluten Herrschers, während alle anderen großen Länder Europas längst Republik waren oder konstitutionelle Monarchien;
  • in einer riesigen Armee unter einem ungebildeten, adligen Offizierkorps mit Soldaten, die von diesen Offizieren noch mit der Prügelstrafe kontrolliert wurden
  • einer weitgehend unfähigen Bürokratie, die jede Initiative von unten blockierte
  • einer berüchtigten Geheimpolizei
  • härtester Russifizierung der nationalen Minderheiten
  • Progromen gegen die jüdischen Bevölkerungsteile, die sogar von amtlichen Stellen und der Geheimpolizei ermutigt wurden.

Kennzeichnend für das Bild, das im übrigen Europa von diesem russischen Kaiserreich herrschte, ist die Einstellung des großen ersten Vorsitzenden der damals noch revolutionären SPD, August Bebel. Dieser handelte in Deutschland mit seiner Partei nach dem Motto: „Keinen Mann und keinen Groschen“ für die Armee. Derselbe aber meinte als schon alter Mensch, gegen Russland unter dem Zarismus würde selbst er noch das Gewehr nehmen.

Was also soll die Wiedergabe eines Dokumentes aus der „Werkstatt“ des Despoten eines solchen Landes.

Rein methodisch wäre es unrichtig, diese Merkmale der Rückständigkeit nur von heute aus und nur im Bezug auf Russland zu sehen. Ich will hier nur durch zwei Hinweise andeuten, dass selbst Länder, die jeder heute hoch ansehen würde, damals Züge aufwiesen, die auch nicht „zivilisiert“ waren:

Belgien – Dieses kleine Land, das später von der kaiserlich-deutschen Regierung so brutal in seiner Neutralität verletzt und 4 Jahre als Kriegsschauplatz missbraucht wurde, übte durch seine herrschenden Kreise eine ebenfalls einzigartig brutale Kolonialherrschaft im Kongo aus.

Großbritannien – Dort hatten viel weniger Bevölkerungsteile das Wahlrecht als im ach so rückständigen deutschen Kaiserreich; wir sind hier im Jahre 1898 kurz vor dem Burenkrieg, in dem die britische Regierung (als erste) Konzentrations-Lager einrichtete.

So, mit dieser Vor-Einstimmung möchte ich Ihnen vorschlagen, das Zaren-Dokument zu lesen – vielleicht auch mit einem Schmunzeln über die damalige Formulierung von ‚Befehlsverhältnissen‘:

„Das Czaren-Manifest

Am 24. August 1898 überreichte Graf Murawjew allen in Petersburg accreditierten auswärtigen Vertretern ein Rundschreiben folgenden Inhalts:

‚Die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens und eine mögliche Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen, welche auf allen Nationen lasten, stellen sich in der gegenwärtigen Lage der ganzen Welt als ein Ideal dar, auf das die Bemühungen aller Regierungen gerichtet sein müßten.

Das humane und hochherzige Streben Sr. Majestät des Kaisers, seines erhabenen Herrn, ist ganz dieser Aufgabe gewidmet. In der Überzeugung, daß dieses erhabene Endziel den wesentlichsten Interessen und den berechtigten Wünschen aller Mächte entspricht, glaubt die kaiserliche Regierung, daß der gegenwärtige Augenblick äußerst günstig dazu sei, auf dem Wege internationaler Beratung die wirksamsten Mittel zu suchen, um allen Völkern die Wohlthaten wahren und dauernden Friedens zu sichern und vor allem der fortschreitenden Entwickelung der gegenwärtigen Rüstungen ein Ziel1 zu setzen.

Im Verlaufe der letzten zwanzig Jahre hat der Wunsch nach einer allgemeinen Beruhigung in dem Empfinden der zivilisierten Nationen besonders festen Fuß gefaßt. Die Erhaltung des Friedens ist als Endziel der internationalen Politik aufgestellt worden. Im Namen des Friedens haben große Staaten mächtige Bündnisse mit einander geschlossen. Um den Frieden zu wahren, haben sie in bisher unbekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt und fahren fort, sie zu verstärken, ohne vor irgend einem Opfer zurückzuschrecken.

Alle ihre Bemühungen haben dennoch nicht das segensreiche Ergebnis der ersehnten Friedensstiftung zeitigen können. Da die finanziellen Lasten eine steigende Richtung verfolgen und die Volkswohlfahrt an ihrer Wurzel treffen, so werden die geistigen und physischen Kräft der Völker, die Arbeit und das Kapital zum großen Teile von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt und in unproduktiver Weise aufgezehrt. Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren, infolge irgend einer neuen Entdeckung auf diesem Gebiet. Die nationale Kultur, der wirtschaftliche Fortschritt, die Erzeugung von Werten sehen sich in ihrer Entwickelung gelähmt und irregeführt.

Daher entsprechen in dem Maße, wie die Rüstungen einer jeden Macht anwachsen, diese immer weniger und weniger dem Zwecke, den sich die betreffende Regierung gesetzt hat. Die wirtschaftlichen Krisen sind zum großen Teile hervorgerufen durch das System der Rüstungen bis aufs Äußerste, und die ständige Gefahr, welche in dieser Kriegsstoffansammlung ruht, machen die Armeen unserer Tage zu einer erdrückenden Last, welche die Völker mehr und mehr nur mit Mühe tragen können.

Es ist deshalb klar, daß, wenn diese Lage sich noch weiter so hinzieht, sie in verhängnisvoller Weise zu eben der Katastrophe führen würde, welche man zu vermeiden wünscht und deren Schrecken jeden Menschen schon beim bloßen Gedanken schaudern machen.

Diesen unaufhörlichen Rüstungen ein Ziel zu setzen und die Mittel zu suchen, dem Unheil vorzubeugen, das die ganze Welt bedroht, das ist die höchste Pflicht, welche sich heutzutage allen Staaten aufzwingt.

Durchdrungen von diesem Gefühl, hat Se. Majestät geruht, mir zu befehlen, daß ich allen Regierungen, deren Vertreter am kaiserlichen Hofe accreditiert sind den Zusammentritt einer Konferenz vorschlage, welche sich mit dieser ernsten Frage zu beschäftigen hätte. Diese Konferenz würde mit Gottes Hilfe ein günstiges Vorzeichen des kommenden Jahrhunderts sein. Sie würde in einem mächtigen Bündel die Bestrebungen aller Staaten vereinigen, welche aufrichtig darum bemüht sind, den großen Gedanken des Weltfriedens triumphieren zu lassen über alle Elemente des Unfriedens und der Zwietracht. Sie würde zugleich ihr Zusammengehen besiegeln durch eine solidarische Weihe der Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit, auf denen die Sicherheit der Staaten und die Wohlfahrt der Völker beruht.‘ “

(wiedergegeben unter Wahrung der ursprünglichen Rechtschreibung aus: Bertha v. Suttner, Die Haager Friedenskonferenz. 1900, ohne Ort. Nachdruck Düsseldorf 1982. Anhang, Seiten III-V. Gesperrter Druck gibt ebensolchen Druck des Originals wieder.)

Bemerkenswert scheinen mir besonders folgende Gedanken, die ich z.B. erst aus Studien der 70ger oder 80ger Jahre kenne (in der Reihenfolge des Textes):

  • die „Bemühungen“ aller Regierungen müssten auf Abrüstung gerichtet sein (stillschweigend impliziert dies: wenn diese Regierungen nur auf das eigentliche Problem, „die fortschreitende Entwickelung der gegenwärtigen Rüstungen“ reagieren würden, ohne sich von egostischen Interessen von Teilgruppen ihres Staates treiben zu lassen). Diese „Pflicht“ wird im vorletzten Abschnitt nochmals betont.
  • Im 4. Abschnitt werden scheinbar diejenigen Argumente anerkannt, die damals und heute angeführt werden, um Aufrüstung zu legitimieren: si vis pacem, para bellem (Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor; hier: „Um den Frieden zu wahren, haben sie in bisher unbekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt“). Scheinbar, denn im 5. Abschnitt wird von einer Regierung hier zugegeben, dass die Aufrüstung schon das zivile Leben vergiftet („in unproduktiver Weise aufgezehrt“). Noch aktueller und treffender dann: die Tötungsmaschinen veraltern schnell und müssen dauernd neu ersetzt werden („ schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren, infolge irgend einer neuen Entdeckung auf diesem Gebiet“). Um es mit Worten aus der modernen Diskussion um den Militär-Industrie-Komplex zu sagen: sie modernisieren sich unter den Sachzwängen der Wissenschaft mit ihren unaufhörlichen Erfindungen. Die Forschung spricht von den Obsoleszenz-Zyklen und der Modernisierungs-Inflation.2 Sie re-agieren oft nicht einmal auf Entwicklungen beim Gegner, sind also eher autistisch und endogen verursacht. Zur beschleunigten Abfolge von Entdeckungen und Waffenentwicklungen siehe hier im Blog diese Artikel zum MIK (‚Der Militär-Industrie-Komplex(MIK). Beispiele aus Geschichte und Gegenwart‘ vom April ’22; ‚Ein Kriegsgrund der letzten 100 Jahre – Präsident Eisenhower informiert‘ vom April ’22)
  • Im 5. Abschnitt wird das Märchen von „si vis pacem, para bellum“ nochmals entzaubert: Diese Aufrüstungsschritte dienen schon gar nicht mehr dem ursprünglichen Zweck, den die Regierungen ursprünglich beabsichtigten, nämlich einer angeblichen Sicherheit („ …in dem Maße, wie die Rüstungen einer jeden Macht anwachsen, diese immer weniger und weniger dem Zwecke, den sich die betreffende Regierung gesetzt hat“). Und nochmals: sie rufen Wirtschaftskrisen hervor, vergiften also das zivile Leben; und so manche Wirtschaftskrisen hat ja direkt oder indirekt die „internationalen Spannungen“ angeheizt und ist in Krieg entartet.
  • Der 6. Abschnitt hält es für daher für „klar“, dass diese Aufrüstungen kontraproduktiv sind und gerade deswegen Kriege hervorrufen. Auch wird hier auf die Art der Waffen verwiesen, die das industrielle Zeitalter hervorbringt: sie waren schon damals ’schauderhaft‘ für normales menschliches Denken. – Wenn der Zar wüsste, wie weit wir in der Steigerung des Schauderhaften fortgeschritten sind.

Allgemein bemerkenswert finde ich es, dass es eine Regierung ist, die all dies bestätigt: man unterliegt als Regierung den Zwängen der Aufrüstung, wenn man nicht am System selbst etwas ändert. Und sowohl die Aufrüstung wie auch die dadurch gerade provozierten Kriege sind für diese Regierungen kontraproduktiv!!!

Zurück zum Dokument: Welche Prophezeiung auf die Herrscherhäuser, die dann 1917 und 1918 reihenweise purzelten!

Insgesamt bemerkenswert finde ich das Dokument, weil diese Episode aus der Regierung Nikolaus‘ II. kaum bekannt ist. Auf Wikipedia findet man im Artikel zu Nikolaus folgenden kleinen Abschnitt, sogar ohne Verweis auf unser Dokument:

„Haager Friedenskonferenz 1898

Zar Nikolaus II. hatte die 1. Haager Friedenskonferenz 1898 mit der Begründung angeregt, es drohe ansonsten „eine Katastrophe“.[6][7] Im Jahr 1899 tagten vom 18. Mai bis zum 29. Juli Juristen und Politiker aus insgesamt 26 Staaten.“ (Wikipedia in der Fassung vom 12.12.2023)

Von der Welt der Ideen zum tatsächlichen Geschacher um Rüstung:

Es würde diesen Artikel zu sehr aufblähen, wenn man die Verhandlungen bei der Haager Konferenz 1899 hier noch schildern würde. Alles lief ab nach den bekannten Mustern. So wurde etwa dem Zaren unterstellt, er wolle angesichts der Rückständigkeit seines Reiches und seiner Armee nur aus egoistischen Motiven eine Verlangsamung der Aufrüstung der anderen Mächte, nämlich um dann selbst aufholen zu können.

Für alle, die die niederschmetternden Resultate der Konferenz studieren wollen, sei hier ein Internet-Link aufgeführt, wo man vieles findet:

https://books.google.de/books?id=FXhdDwAAQBAJ&pg=PA27&lpg=PA27&dq=das+Zaren-Manifest+vomm+24.08.1898&source=bl&ots=OiTzdInxoX&sig=ACfU3U2upV7HzJ-41qsdpCSNBDbCgZ_KWg&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwis5q350YmDAxX7Q_EDHZ65BUoQ6AF6BAgZEAM#v=onepage&q=das%20Zaren-Manifest%20vomm%2024.08.1898&f=false

Nachtrag:

Und noch ein Hinweis auf eine satirische Schilderung von „Abrüstungs“-Konferenzen im Film: In einer BBC-Satire von 1972 über die französische Provinz der 20ger Jahre mit Namen „Clochemerle“ kommt eine solche Konferenz vor (Folge IX mit dem dt. Titel: der triumpale Sieg der Vernunft; engl. Original: The Glorious Triumph of Bartholemy Piéchut)

1Das Wort „Ziel“ ist hier wie auch sonst im Text als „Ende“ oder „Grenze“ zu verstehen

2Dies findet sich – kurz zusammengefasst – auf S. 17 des Buches: Rüstung und Militarismus von Dieter Senghaas, hier zitiert nach der 1.Auflage von 1972, Frankfurt/M.


Autor dieses Artikels ist:

G. Jankowiak

Sodinger Str. 60

44623 Herne