Die österreichische Zeitung „Standard“ veröffentlichte am 14.7.d.J. ein Interview mit dem in der Überschrift genannten Historiker. Snyder ist US-Amerikaner, er hat eine akademische Karriere in den USA und Europa,ist an Institutionen in beiden Erdteilen tätig; sein Forschungsschwerpunkt ist Osteuropa zur Zeit Stalins und Hitlers. Politisch steht er dezidiert gegen die Kreise um D. Trump; er hat eine Spendenkampagne gestartet zur Anschaffung von Luftverteidigungswaffen für die Ukraine. Der Titel des Interviews mit ihm lautete: „Natürlich können wir Putin demütigen.“ (https://www.derstandard.at/story/3000000178768/timothy-snyder-natuerlich-koennen-wir-putin-demuetigen?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE)
Als Antwort auf die letzte Frage, ob wir eine europäische Armee erleben würden, sagte Snyder:
„Ich persönlich glaube schon. Die Europäer sollten sich von den Amerikanern emanzipieren. Ihr solltet in der Lage sein, alleine mit der Ukraine zurechtzukommen – etwa für den Fall, dass Donald Trump die US-Wahlen 2024 gewinnt. Eure Wirtschaft ist so groß wie unsere. Euer militärisches Potenzial ist größer als jenes Russlands. Es sollte eine europäische Militärakademie geben, die Offiziere ausbildet, und das sollte meiner Meinung nach der Beginn europäischer Streitkräfte sein. Die russische Armee wirkt nur so groß, weil Europa keine hat. Aber Polen allein ist sogar in der Lage, eine ähnliche Armee wie Russland aufzustellen. Mit einer europäischen Armee – 60.000 Soldatinnen und Soldaten reichen – wäre der Krieg in der Ukraine wohl nicht passiert.“
Nun, ich meine, dass hier einer der angesehensten Kritiker der Putin-Administration und einer der aktivsten Trommler für die Ukraine überraschende Eingeständnisse macht! Er bestätigt nämlich, dass die Staaten Europas allein jetzt schon der Armee Russlands ebenbürtig, wenn nicht überlegen sind bzw. sein könnten.
Wenn ich das ernst nehme, so ist die NATO-Aufrüstung, für die ab 2014 die Weichen gestellt wurden, und die jetzt ungeachtet des Kriegsverlaufs „Fahrt aufnimmt“, eigentlich sinn-los. Denn: „Aber Polen allein ist sogar in der Lage, eine ähnliche Armee wie Russland aufzustellen.“(Zitat aus dem obigen Interview-Ausschnitt).
Und da hat Snyder Recht, denn Polen allein unter seiner jetzigen PiS-Regierung macht alle Anstrengungen die stärkste Streitmacht Europas aufzustellen — natürlich in starker Konkurrenz zu Deutschland mit seinem 100 Milliarden-Schulden-Rüstungs-Extraprogramm (ich meine das „Sondervermögen“) neben dem regelrechten jährlichen Militäretat.
Unrecht hat Snyder, wenn er dies absolut setzt. Er hätte formulieren sollen: Polen im Vergleich zu der russischen Armee, die Moskau gegenüber dem Mittelabschnitt seiner Front, also Polen, konzentrieren könnte unter Beachtung des Nordabschnittes (Schweden, Baltikum, Finnland) und Südabschnitt (Ukraine)
Unrecht hat er, wo er im Satz zuvor behauptet, Europa habe keine Armee. Gut, es gibt keine EINE Armee Europas, aber es gibt – allein auf die europäische NATO – bezogen, 29 nationale Armeen. Und wenn man die alle zusammenrechnet, so kommt man auf gigantische Zahlen. Ich habe diese addiert, lt. CIA-Factbook für 2021. Man kommt für die NATO insgesamt auf 3,2 Mio. Mannschaftsstärke, für Russland mit Bjelarus auf 1,1 Millionen, wozu ich schon die 300 000 vom letzten September z.T. hinzugerechnet habe. Für die rein europäischen Staaten (inc. Finnland und Schweden, incl. Türkei) kommt man auf 1,8 Millionen, wenn man die 1,4 Millionen US-Truppen abzieht. (Eine genauere Tabelle lässt sich hier nicht einfügen – jedoch kann jeder selbst addieren, evtl. unter Hinzuziehung eines Factbooks neueren Datums.Ich hatte hier in diesem Programm einmal vergeblich versucht solch eine Tabelle einzufügen).
Eine andere Überlegenheit Europas gibt Snyder selbst zu: „Eure Wirtschaft ist so groß wie unsere.“ Und hier hätte Herr Snyder einfügen müssen, um wie viel mal größer diese Wirtschaftskraft Europas und die der USA im Vergleich zu der Russlands ist. Die Folgerung aber aus diesem Satz ist mit Einschränkung wieder richtig: „Euer militärisches Potenzial ist größer als jenes Russlands.“ Es stört mich „Potential“, weil ja aus der gesamten Passage deutlich wird, dass schon EIN Land Europas militärisch genauso stark werden könnte wie Russland – ich meine das, was Snyder mit dem Satz über Polen sagte.
Es geht zur Einschätzung der jetzt sich entwickelnden Situation nicht um „Potential“, sondern darum, dass die polnische Armee JETZT schon ein Gegner für Russland wäre (in den o.g. Kriterien) , und dass sie weiter wachsen soll. Und weiter wachsen soll die Bundeswehr. Wie das mit deren Finanzen ist, habe ich oben angedeutet; die Mannschaftsstärke soll um gut 10% ausgebaut werden; die Struktur der Streitkraft soll – nach dem Irrtum der Struktur, die für die Gefolgschaft im US-Krieg gegen den „Terror“ geschaffen wurde – für offensive Operationen in Europa fit gemacht werden. Ihr Militärminister agiert forsch: so versprach er beim letzten Besuch in Litauen diesem Land eine dauerhaft dort stationierte Brigade – also dem heutigen Äquivalent zu einer Division des II. Weltkrieges/Massenvernichtungskrieges. Er ist so „forsch“, dass er das entgegen der letzten Abmachung mit Russland und ohne offene Absprache mit seiner Regierung und dem Bündnis tat.
Und natürlich sind in allen weiteren europäischen NATO-Armeen solche „forschen“ Leute am Werk!
Ob daraus nun etwas entstehen kann wie „europäische(r) Streitkräfte“, das ist eine Frage nach der gegenseitigen Rivalität in Europa, der mehr oder minder großen Gefolgschaft zu den USA, nach Traditionen und nationalen Reservaten der Souveränität.
Klar sein dürfte allerdings, dass eine solche europäische Armee viel kleiner sein könnte als der jetzige Wildwuchs mit 29 Armeen und ihren Generalstäben und ihren Ministerien und der entsprechenden Rüstungsindustrie.
Was im Gegenzug bedeutet, dass diese 29 Armeen, handelten sie denn zusammen, jetzt schon der russischen Armee überlegen sind. Es bedeutet ferner, dass all die nationalen Aufrüstungspläne und Aufrüstungsaktionen überflüssig sind, sinn-los sind, ein Ergebnis eines Hirn-Todes sind.
Im Falle ihrer Verwirklichung käme eine vielgliedrige Monsterarmee heraus, die dem Gegner entweder eine entsprechende Gegen-Aufrüstung aufnötigen würde; sie könnte aber auch Verachtung hervorrufen, da der Gegner annehmen könnte, dass solch eine Armee nicht handlungsfähig wäre, da sie das Produkt von 29 Staaten mit 29 Egoismen und 29 Graden der Beteiligung an den Gefahren eines Krieges wäre. Ähnlich hat ja wohl Putin die politische Reaktion des „Westens“ kalkuliert im Februar 2022.
Beide mögliche Reaktionen des Gegners wären gefährlich!
Könnte Europa sich auf eine supranationale europäische Armee einigen und könnte es eine solche schaffen, so bräuchte diese – grob gesagt – zu Verteidigungszwecken nicht größer sein als die entsprechende russische. Sie könnte also wesentlich kleiner sein als die 29 getrennten Armeen. Und natürlich billiger. (Was natürlich eine Bedrohungs-Propaganda-Offensive der diversen Rüstungsindustrien hervorrufen würde)
Lächerlich ist Snyders Kalkulation, dass diese nicht mehr als 60 000 Mann groß sein müsse. Warum? Erst einmal müsste man hiervon gedanklich die Mannschaftsstärke abziehen für Marine und Luftwaffe und KI, ich schätze, dass das grob 15 000 Mann wären. Blieben 45 000 als Heer, also als Land-Streitkraft übrig. Und da dürfte jetzt schon jedem klar sein, dass damit die mittlerweile gut 4000 Kilometer lange neue NATO-Grenze höchstens im Sinne einer Polizei überwachbar wäre.
Fazit für die Friedensführung:
Aber es ist ja nicht unsere Aufgabe hier, den Plan für eine mögliche einige europäische Armee zu entwerfen – dazu gibt’s ja diese Riesen-Ministerien.
Das Ergebnis unserer einfachen Gedanken ist, dass Europa in Gestalt seiner Einzelstaaten jetzt schon viel zu viel rüstet und ausgibt und – viel schlimmer – Kapazitäten in der Rüstungsindustrie aufbaut. Allein schon diese Kapazitäten und ihre Vertreter werden in Zukunft ein mächtiges Bollwerk gegen alle Versuche sein, dass Russland und seine europäischen Brüder sich verständigen könnten. (Wer sich über die Wortwahl hier wundert: im ganzen Artikel habe ich ja von einer „europäischen“ Armee gegen Russland gesprochen, was ja schon geographisch falsch ist, da der wichtige Teil Russlands ja Teil Europas ist.) Das behaupte nicht ich, sondern das kann man in der Abschiedsrede Präsident Eisenhowers nachlesen.
Additum:
Das Interview mit Snyder war ja betitelt: „Natürlich können wir Putin demütigen.“ Das sagt Snyder tatsächlich im Interview!!! Ich meine: einer seiner schlimmsten Denkfehler! Er widerspricht allen Erfahrungen Europas seit 1815! Dort, wo man jemanden demütigte, stand bald der neue Krieg ins Haus (1871 Demütigung Frankreichs; 1918 Demütigung Deutschlands); dort, wo man den Gegner als im Irrtum befangen behandelte, entstand länger andauernder Friedenszustand (1815 zu Frankreich; 1866 zu Österreich).
Ich vermute, dass Snyder zu viel als Politiker agiert und zu wenig als Historiker, bzw. dass Snyders politisches Engagement seine Korrektheit als Historiker beeinträchtigt.