Das Einnehmen eines möglichst treffenden STANDPUNKTES – Clausewitz selbst hat es in seiner Spätzeit vorgemacht (7-6-23)


Auszüge aus „Nachrichten über Preußen in seiner größten Katastrophe“, geschrieben 1823/24, also vor den vorläufigen Abschlussarbeiten an „Vom Kriege“. Zur Erinnerung: dieses Hauptwerk wurde von Clausewitz nie abgeschlossen, nur Buch I, Kapitel 1 ist nach seinem eigenen Zeugnis vollendet.

Zur Wichtigkeit des Standpunktes hatte er sich in „Vom Kriege“ auf der Seite 992 grundsätzlich geäußert.

Hier in diesen „Nachrichten über Preußen …“ schreibt er:

(…) „Ich kann mich nicht darauf einlassen, alle Fehler, die sich in der letzten Zeit in unserer Kriegsverfassung fanden, ausführlich darzutun und die teils dadurch entstanden waren, daß das System derselben nicht mehr auf die veränderte Zeit paßte, von seinem Grundbau losgelassen und Klüfte und Risse bekommen hatte, teils dadurch, dass es eingerostet und in sich verfallen war; ich muß mich begnügen, sie bloß zu erwähnen und will sie hier noch einmal zusammenfassen: – Die obere Leitung der Militär-Angelegenheiten war ohne Geist, die höheren Offiziere sämtlich waren alt und kassiert, bis zum Stabskapitän1 hinab. Die Soldaten selbst auch zu alt, denn ein Tagelöhner2, der die Mühen seines Lebens 40 bis 50 Jahre schon getragen hat (sie mußten ja 25-30 Jahre dienen, ehe sie invalide erklärt werden konnten) bringt nur erschöpfte Kräfte des Geistes und des Körpers mit ins Feld. Die Bewaffnung war schlechter als eine in Europa, das Material der Artillerie, mit Ausnahme der Geschützrohre, nicht besser3; Nahrung und Kleidung des Soldaten unter dem Notdürftigen, die Ausrüstung für den Krieg nach alter Art, folglich für das Bedürfnis der Zeit mit überflüssigen Dingen überladen; der Geist des Heeres im höchsten Grade unkriegerisch, die Bildung nur einseitig, im Preußentum befangen, ohne Teilnahme und Aufmerksamkeit für das, was sich anderswo begab, ohne Würdigung der neuesten kriegerischen Erscheinungen; die Übungen unpassend, in ewiger steriler Nachbildung des Alten und Veralteten4, zu allem ein seltener Dünkel, der sogar die Besorgnisse natürlicher Furchtsamkeit einschläferte.

Von dieser Schilderung kann der Verfasser bei sorgfältiger Prüfung seines Gewissens nichts streichen.“ (…)

Der Verfasser „ (…) ist in der preußischen Armee groß geworden. Sein Vater war eine Offizier des Siebenjährigen Krieges, voll der Vorurteile seines Standes, in seinem elterlichen Hause sah er fast nur Offiziere, und zwar nicht gerade die gebildetsten und vielseitigsten; mit dem 12. Jahr wurde er selbst Soldat, machte die Feldzüge von 1793 und 1794 mit und sog in der ganzen ersten Zeit seines Dienstes bis zum Jahr 1800 keine anderen Meinungen ein, als die in der Armee zu Hause waren, von der überwiegenden Vortrefflichkeit des preußischen Heeres und seinen Einrichtungen. Das National- und selbst das Kastengefühl war also in dem Verfasser von jeher so stark und festgewurzelt, wie es nur irgendwo werden kann durch die Erziehung, welche das Leben gibt (Eigentlich beschreibt sich C. Hier als borniert = begrenzt). Ferner muß der Verfasser von sich bemerken, daß es ihm in dem preußischen Heer stets über Maß und Verdienst glücklich gegangen ist – unter diesen Umständen verdient das Urteil des Verfassers gewiß nicht, mit dem Mißtrauen angesehen zu werden, als könne es aus einseitigem Umgang, Mißmut, Bitterkeit usw. entstanden sein.

Der Verfasser war eine preußischer Offizier im ganzen Sinne des Wortes und wenn er bald anders über das preußische Kriegswesen dachte als die meisten seiner Kameraden, so als ein bloße Folge seines Nachdenkens. Bei aller natürlichen Vorliebe, welche er für sein Vaterland und seinen Stand hatte, schien ihn doch vieles sehr unvollkommen zu sein.

Später, vom Jahr 1806 an, war es der Umgang mit Leuten, die sich mehr in der Welt umgesehen hatten, die dem Verfasser noch mehr die Augen über die Schwächen des vaterländischen Militärwesens öffneten. Nichtsdestoweniger hat er in seinem Gefühl immer eine große Vorliebe für dasselbe behalten, aber je größer und tiefer diese eingewurzelt war, umso mehr fühlte er sich stets angeregt, die Schwächen unverhohlen aufzudecken; umso mehr erkannte er das Bedürfnis an, daß ein belebender, schöpferischer Geist, eine werktätige Hand sich finden mußte, um das Gebäude neu einzurichten, ehe es in Trümmern zerfiele. „ (…)

(aus: W.v. Schramm: Clausewitz – General u Philosoph, S. 160f.)

Fazit für die Friedens-Führung

Als methodische Schritte demonstriert Clausewitz hier am eigenen Beispiel:

  • das Bemühen um Vollständigkeit (s. Anfang des Textes, die Aufzählung); Prof. Hahlweg hätte gesagt die „Totalität“ der Erscheinungen
  • das Bemühen nichts aus „National- und (…) Kastendünkel“ zu verschweigen
  • das eigene geistige Werden sehr kritisch für die Einschätzung der eigenen Standortbestimmung zu reflektieren („ … sog in der ganzen ersten Zeit seines Dienstes bis zum Jahr 1800 keine anderen Meinungen ein, als die in der Armee zu Hause waren, …)
  • Überprüfung, ob die eigene Meinung etwa durch Abneigung gegen den Gegenstand oder durch besondere Vorrechte, die man durch den Gegenstand (hier die Armee) genoss, negativ oder positiv beeinflusst wurde.
  • „ … große Vorliebe für dasselbe behalten, aber je größer und tiefer diese eingewurzelt war, umso mehr fühlte er sich stets angeregt, die Schwächen unverhohlen aufzudecken …“. Das heißt, dass es ein „right or wrong – my country“ nicht geben darf. Man muss sich selbst dafür einsetzen, dass es im eigenen Wirkungsbereich keinen der Kritik würdigen Missstand gibt.

Der Standpunkt, den man wohl heute angesichts der Totalität der Erscheinungen und Entwicklungen einnehmen muss, dürfte wohl sein:

Vermeidung eines Atomkrieges und, damit eng verbunden, aber nicht 100% gleichwertig: der Ausbau des Völkerrechtes sowie die Annäherung an eine Verbesserung der sozialen Lage auf der Welt. Denn ein Weiter-So im Sinne der Kriegslogik verbietet die Entwicklung des Kriegswesen in ihrer ganzen Totalität, incl. Atom und KI.

1Die Armeen des 18. Jahrhunderts waren durch den Primat des Adels gekennzeichnet. Adel aber arbeitet nicht.!Deshalb waren Adlige zwar oft Inhaber einer militärischen Einheit, hier einer Kompanie, aber oft nicht mit dem Dienst der Kompanie befasst; dies umso eher, wenn sie hohes Alter hatten. Die Inhaberschaft brachte übrigens zusätzlich zum Grundsold Einkünfte. Den beständigen Alltagsdienst versahen dann Stabs-Kapitäne oder auch Seconde-Kapitains im Gegensatz zu den Premier-Kapitäns. Letzterer Begriff so benutzt in den Ranglisten der königlich preußischen Feld- und Garnisonsartillerie von 1756 und 1763, nachzulesen bei Guddat, Martin: Kanoniere, Bombardiere, Pontoniere. Die Artillerie Friedrichs des Großen. Hamburg-Berlin-Bonn (Mittler u Sohn) 2011 (2), S. 114-116. Die Bedeutung des „Stabskapitäns“ hier im Text ist also: Die höheren Offiziere waren alt, sogar deren Vertreter , die ja für die Bewältigung des Alltagsdienstes eigentlich jünger hätten sein müssen als die sowieso meist älteren Inhaber der Einheit.

2Bekanntermaßen bestand die preußische Armee bis zur Reform 1807/1808 aus den bäuerlichen Landeskindern und geworbenen Ausländern, letztere also eine Art Berufs-Söldner, die auf einer Art Vertragsgrundlage in der Armee dienten – auch wenn der Vertrag oft nur aus dem Handgeld bestand, das sie bei der Werbung bekamen. Hier scheint die Stelle wegen des Begriffs des „Tagelöhners“ nahezulegen, dass die geworbenen Ausländer gemeint sind. Denn diese verblieben außerhalb der Übungs- und Manöverzeit in der Garnison und verdingten sich dort oft als Handwerker o.ä., eben Tagelöhner. Die bäuerlichen Inländer kehrten ja in dieser Periode auf ihre Bauernstelle und zum angestammten Gutsherrn zurück.

3Die bessere Qualität der Geschütz-Rohre ergibt sich aus ihrem Material, welches sehr beständig ist. Dagegen ist das Holz und die Bespannungsmaterial der Artillerie, das Leder, anfällig für Alterung. Hinzu kommt, dass die Artillerie weniger Ansehen besaß als Infanterie und Kavallerie. Dies zeigt sich schon daran, dass sie – den Maßstäben des feudalen Zeitalters entgegen – wenig adlige Offiziere hatte. So konnte es kommen, dass bei ihr besonders gespart wurde. Selbst unter Friedrich II. musste der Generalinspekteur der Artillerie in endloser Korrespondenz um jeden Taler kämpfen. Friedrichs Nachfolger war weder energisch in der Überprüfung der Einzelheiten des Dienstes noch genau in der Ausgabenführung.

4Scharnhorst selbst schilderte so etwas in seiner Denkschrift: Probeübungen eines Artilleriekorps über den sinnlosen Drill, der aus der Vergangenheit übernommen und nie geändert wurde: „… man gab ihm dabei statt der Wischer Wischerstangen, ließ alle Griffe und Tritte bald nach Kommandos, bald nach dem Trommelschlag zugleich mit so viel Geschützen machen, als nur zusammenzubringen waren. Keine Funktion geschah auf eine belehrende Art; das Wischen fiel weg, da kein Wischkolben an der Stange war; die übrigen Funktionen wurden nur bezeichnet, aber nicht ausgerichtet; das Ganze löste sich in ein Spielgefecht auf. Die schwerste Funktion, das Richten, wurde (für) ganz überflüssig gehalten.“ (…) Usczeck, H./Gudzent, Christa: Gerhard von Scharnhorst, Ausgewählte militärische Schriften. Berlin (Ost) 1986, S. 323


Autor dieses Artikels ist:

G. Jankowiak

Sodinger Str. 60

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