Wenigstens Kissinger … (31.5.2023)


Ja, ich habe schon einmal einen Artikel mit der Überschrift „Wenigstens …“ begonnen, damals den Artikel über Gorbatschow im Oktober 2022. Nun habe ich einen Artikel aus der ZEIT zu einem anderen Politiker einer früheren Generation bekommen, zu Henry Kissinger. Der Artikel ist wohl aus einer Zeit-Ausgabe um den 27. März herum, dem Geburtstag von Kissinger.

Nicht nur der Gesprächspartner Kissinger ist bemerkenswert, sondern auch die Länge des Interviews: ich habe den Artikel mit meinem Word-Programm kopiert, und dort nimmt er 8 Seiten ein, in 12-er Buchstabenformat!!! (Im Folgenden beziehe ich mich bei Stellenangaben auf Zeilen; diese Zeilen spiegeln diese Übertragung in 12-er Größe wieder).

Im Folgenden möchte ich Kissingers Ansichten zu drei Themen wiederzugeben versuchen:

– Putin und der Krieg

– Atomwaffen und neue Techniken/Technologien

– USA und China.

Putin, Russland und der jetzige Krieg

Kissinger beginnt (!) seine Ausführungen damit, dass er bei Putin das Bestreben erkannte „immer die Bewahrung der Würde Russlands“ (Z.39) zu erreichen. Inhaltlich wiederholt er dies in Z. 55: „Er hat, denke ich, den Eindruck gewonnen, er werde nicht ernst genommen. Die Ukraine ist für ihn ein Symbol für Russlands Erniedrigung.“

Ich halte diese zwei Stellen für extrem wichtig um die Politik Putins und die Russlands insgesamt zu verstehen, also den „Standpunkt“ Russlands im Sinne der Standortdefinition bei Clausewitz1. Kissingers Befund entspricht übrigens dem Urteil des Osteuropa-Historikers Prof. Baberowski, den wir hier im Mai 2022 schon einmal ausführlich besprochen haben.

Ob Kissinger Putin beurteilen kann?

Er selbst gibt an, ihn schon aus den 90er Jahren zu kennen und ihn jährlich ein Mal getroffen zu haben, und zwar: „unter vier Augen“, nie „im gesellschaftlichen Rahmen“.

Ich meine: eine bessere Grundlage für eine Beurteilung eines (gegnerischen) Politikers als die von Kissinger zu Putin gibt es nicht: lange Dauer, Regelmäßigkeit, Vertraulichkeit.

Zu dem o.g. Befund zum „Standpunkt“ Russlands passen dann die weiteren Äußerungen Kissingers:

  • Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass alle Schuld bei Putin liegt.“ (Z. 59)
  • Das Vorhaben einer Einladung an die Ukraine aus dem Jahre 2014 zum Beitritt zur NATO sei falsch gewesen, ein Beitritt dieses Landes nach den anderen östlichen Ländern sei nicht „weise“ (Z.65) gewesen. Dies begründet Kissinger noch damit, dass vor einer Mitgliedschaft der UA die Westgrenze der UA 300 Meilen von Warschau entfernt gewesen wäre; dieselben 300 Meilen wären es nach einem Beitritt der UA zur NATO von der Ostgrenze der UA nach Moskau (!!!).
  • Die Rolle der UA sei eher die einer Brücke zwischen RU und der NATO gewesen.
  • Jetzt aber sei er für einen Beitritt der UA zur NATO nach dem Krieg. „Heute bin ich absolut dafür, die Ukraine nach dem Ende des Krieges in die Nato aufzunehmen. Jetzt, da es keine neutralen Zonen mehr zwischen der Nato und Russland gibt, ist es besser für den Westen, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. (…)“ (Z. 79-81)

Bedenkenswerte, fundamentale Urteile eines solchen Fachmannes!

Ich meine aber, dass Kissinger bei der Forderung nach Beitritt der UA nach dem jetzigen Krieg ein Denkfehler unterläuft, denn: die von ihm vorher genannten 300 Meilen gelten ja nach wie vor. Auch Kissinger kann ja nicht die Geographie verschieben. Und deshalb dürften seine Argumente vorher gegen einen NATO-Beitritt auch nicht entkräftet sein. Auch nicht durch Vorteile für den Westen („… ist es besser für den Westen …), denn diesen Vor-teilen stünden ja mit geographischer Dauerhaftigkeit die Nach-teile für Russland entgegen.

Während sich also Kissinger beim letzten Argument eher als „Westler“ betätigt, zeigt er im nächsten Abschnitt wieder tiefes Verständnis für den Gegner: beim Thema Sewastopol, also der „Hauptstadt“ der Krim. Kissinger meint auch, dass Sewastopol „Kern der russischen Identität“ (Z. 100) sei, und zwar in dem Sinne, dass Sewastopol mehr mit der Identität Russlands verbunden sei als andere derzeit strittige Gebiete.Mit diesen meint er wohl undifferenziert die 4 anderen Provinzen.

Was hier fehlt: Spricht Kissinger absichtlich nur von dieser einen Stadt – oder meint er die Krim insgesamt? Und weiter Kissinger: „Ich würde sagen, Sewastopol hat weniger mit der Identität der Ukraine zu tun als viele andere Gebiete, über die gerade diskutiert wird.“ Was sagt Kissinger zu den Bewohnern der „andere(n) Gebiete“, die sich zu Russland zählen? Territorialprinzip oder Selbstbestimmungsprinzip?

Muss ich noch erwähnen, dass Kissinger ein Gerichtsverfahren gegen Putin ablehnt? Einfach, weil es politisch das Erreichen vernünftiger Ziele verhinderte!!!

Atomwaffen und neue Techniken/Technologien

Zu den Atomwaffen ist Kissingers Meinung völlig klar: Ihr Einsatz wäre nun wirklich eine Zeitenwende,. Ich wähle diesen Begriff hier für dieses Thema, da ich ihn in der Prägung des jetzigen deutschen Bundeskanzlers für den 24.2.22 für falsch halte: er widerspricht der materiellen Logik.

Ab Zeile 84 spricht Kissinger über dieses Thema, meint, der Einsatz von A-Waffen würde irreversibel sein: „Würden sie einmal eingesetzt, wäre das ein irreversibler Moment. Das würde zu einer atomaren Bewaffnung aller Staaten führen. Dann würden nukleare Waffen konventionell.“ In Zeile 270 f. charakterisiert er die Folgen eines Einsatzes damit, dass diese eine „neue Realität“ mit „unerträglichen Konsequenzen“ schaffen würden.

Was fehlt: Kissinger hätte genauer die Folgen eines umfassenden A-Waffen-Einsatzes bei Eskalation der Krise schildern können. Die von ihm genannten Konsequenzen könnten schon bei niederschwelligem Einsatz eintreten. Bei Großeinsatz ginge es ja neben den unmittelbaren Zerstörungen um die atomare Verseuchung ganzer Länder und den NUKLEAREN WINTER für den ganzen Globus.

Bezüglich der neuen Techniken/Technologien erörtert Kissinger dies im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen USA und China:

Eine militärische Konfrontation zwischen beiden Mächten wäre ein furchtbares Desaster, schlimmer als der Erste Weltkrieg. Beide sind Hightech-Mächte, sie haben beide Waffen von unbegrenzter Zerstörungskraft. Und nun kommen neue Technologien hinzu, die Möglichkeiten bieten, die wir nicht einmal ansatzweise überschauen. Also müssen beide Seiten mit größter Vorsicht agieren.“ (Z. 164-168)

Wohlgemerkt:

Kissinger nennt die beiden Mächte nach ihrem jetzigen Stand schon „Hightech-Mächte“ im Besitz von Atomwaffen. DANACH aber fügt er die „neue(n) Technologien“ hinzu, die also „Hightech“ und Atomwaffen noch einmal steigern würden – und deren „Möglichkeiten … wir nicht einmal ansatzweise überschauen“. Die Wirkungen der KI schildert er so:

Die Menschheit war noch nie gezwungen, sich mit diesem Problem zu beschäftigen. Bislang war Wissenschaft meist auf wiederholbare Experimente gestützt oder auf mathematisch darstellbare Hypothesen. Heute wissen wir nicht mehr, was die Maschinen wissen. Wir wissen nicht wirklich, warum sie in flüssiger Sprache mit uns sprechen können. Mit anderen Worten: Wir haben Zugang zu einem neuen Mysterium. Das hat enorme politische Konsequenzen.“ (Z. 193-198) Ich meine, man müsste in dem Satz mit dem Mysterium „keine“ ergänzen: Wir haben keinen Zugang zu einem neuen Mysterium.

Er nennt als politische Konsequenzen das Bewusstsein der leitenden Staatsmänner für die unbegrenzte Zerstörung, die sie in ihrer Hand halten. Und wie oft in dem Gespräch zieht er die Parallele zu 1914, indem er sagt, keiner der damaligen Monarchen hätte den Krieg begonnen, wenn er „gewusst hätte, wie dieser Krieg aussehen wird.“( Z. 201f.). Falls diese Politiker die grundlegende Problematik nicht lösen würden, so sähe er voraus: „ … führt irgendein absurdes Ereignis unaufhaltsam zur Eskalation“.

Viele der letzten Bemerkungen waren dem Abschnitt über USA und China, also dem dritten Teil des Interviews entnommen. Deshalb will ich hierzu nichts Weiteres schreiben, damit der Artikel nicht zu lang wird.

Fazit für die Friedens-Führung:

Allgemein verfügbar sind die Statements, ja, die Vermächtnisse, mehrerer höchster Politiker aus der direkten Nachkriegsgeneration. Hier im Blog kamen mehrere von Ihnen zu Wort. Sie alle sprechen Warnungen aus, die von den Politikern unserer „Enkelgeneration“ laufend missachtet werden. Diese sind alle gefangen in der Trotz- und Eskalationsspirale und gefesselt im Bündnis-Zwang: Ja nicht ausscheren, damit man nicht als „Versteher“ der anderen Seite dasteht und als „unzuverlässig“ gegenüber dem eigenen Bündnis. Gerade auch hier übrigens wieder eine Parallele zu 1914, nur eben auf viel komplexerem Niveau, und deswegen auch viel gefährlicher für die Menschheit!

Die Völker sollten aufstehen und ihre Politiker in die richtige Richtung drängen: Erhaltung der Schöpfung gegenüber Krieg, KI und Atom. Schutz gegen und Klimawandel und Ressourcenverbrauch. Spielraum für die nächsten Generationen. Die Verengung auf die „Weisheit“ einiger Staatenführer ist eine Verengung und sie entspringt dem Werdegang Kissingers und wohl auch etwas einer Art von Koketterie mit seiner politischen „Weisheit“.

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Ich hätte noch zwei Ergänzungen bzw. Richtigstellungen zu zwei Stellen des Kissinger-Interviews. Ich führe diese aber hier nicht auf, denn gegenüber der geballten Erfahrung dieses letzten Großen des Kalten Krieges möchte ich nicht kleinlich herumkritteln.

Ihnen sollte im Gedächtnis bleiben, was Kissinger zu Anfang und im ersten Drittel in einer Art Wiederholung sagte: die „Bewahrung der Würde Russlands“ und die Vermeidung von „Russlands Erniedrigung“!

Ceterum censeo hoc bellum in Oriente crescens esse reprimendum!

1„Es ist überhaupt nichts so wichtig im Leben, als genau den Standpunkt auszumitteln, aus welchem die Dinge aufgefaßt und beurteilt werden müssen, und an diesem festzuhalten; denn nur von einem Standpunkte aus könne wir die Masse der Erscheinungen mit Einheit auffassen, und nur die Einheit des Standpunktes kann uns vor Widersprüchen sichern.“ Clausewitz, Carl v: Vom Kriege. Hrsg. W. Hahlweg. Bonn (Dümmler Verlag) 1973 (18), S. 992. Auf der Seite geht es um den Krieg als Teil der Politik, also der vor dem Krieg geführten Politik. (Fettdruck hier gibt Sperrdruck im Original wieder. )