Wenn Sie mehrere meiner Artikel gelesen haben, werden Sie wissen, dass ich oft bei „Experten“ ungenaue Gedankenführung beklagt habe. Umso erstaunlicher sollte diese Überschrift wirken:
da schreibt jemand Gedanken nieder, dessen Homepage wie die eines Karrieristen aussieht. Dessen Gedanken aber kann ich nur mit dem Adjektiv „glasklar“ bezeichnen.
Diese Gedanken, die ich Ihnen gleich präsentiere, sind von Johannes Varwick, Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie stellen für mich das zivile Gegenstück zu den Gedanken von General a.D. Jürgen Reichardt dar; dieser hatte zu einem Artikel von N. Röttgen (CDU-Außenpolitiker) in der F.A.Z. vom 3. Mai einen Leserbrief mit dem Titel „In die Lage Russlands hineinversetzen“ geschrieben. Auch bei Reichardt glasklare Gedanken.
So, nun aber zu den Gedanken von Varwick!
Eingangs konstatiert er, dass die westliche Ukrainepolitik „gut gemeint, aber schlecht gemacht“ sei, und er unterstützt das „unbestrittene Existenzrecht“ der Ukraine. Dies zeigt schon mal, dass er kein „Russlandversteher“ in dem bösen Sinn ist, der diesem Wort oft beigelegt wird. Varwick „steht“ also auf Seiten des Westens, hält aber dessen Politik für falsch.
Er belegt seine These mit dem Hinweis, dass man hinter den Kulissen von den „Entscheidungsträgern“ ganz anderes höre als was diese öffentlich äußerten. Er fordert, dass „verantwortungsbewusste Politik“ drei Faktoren beachten muss:
- zu welchem Preis
- mit welchen Mitteln
- mit welchen Nebenwirkungen
setze ich meine Politik durch. (Dies sind u.a. wesentliche Merkmale einer politischen Lagebeurteilung. Merkmale der militärischen Lagebeurteilung in schöner Zusammenstellung bei Gen. Reichardt)
Varwiclk kritisiert die momentanen „Glaubenssätze“: 1. jetzt sei kein Waffenstillstand möglich; 2. die Ukraine könne den Krieg mit „immer mehr westlicher militärischer Unterstützung gewinnen“; 3. sie könne danach in die „westlichen Sicherheitsstrukturen integriert“ werden.
Diese „Glaubenssätze“ nimmt Varwick danach unter die Lupe:
Der „Sieg“ der Ukraine durch westliche Waffenlieferungen
Dieser hätte eine Niederlage Russlands zur Voraussetzung. Varwick fragt: Wäre das bei dem russischen nuklearen Potential vorstellbar, vor allem, weil Russland den Krieg für (nach Russlands Ansicht) „vitale (lebensnotwendige), G.J.) Interessen“ führt.? Ob China Russland bei Sichtbarwerden der Niederlage allein ließe, sei fraglich. Mit einer „gesinnungsethischen“ Haltung komme man da wohl nicht zu einer Verhandlungslösung. Der bisherige westliche Weg sei angesichts der „schweren Zerstörungen“, der „massiven Verluste“ und „des weiter erheblichen Eskalationspotentials“ kritisch zu sehen.
Die realistische Friedens-Lösung
Varwick hatte ja schon vorher von der gesinnungethischen Haltung im Westen gesprochen; er hält dem das Kriterium eines „nüchternen Interessenausgleichs“ entgegen. Dieser sei nötig, weil die Ukraine tatsächlich im „russischen Einflussgebiet“ liege, was man nicht gut finden müsse, aber nur ändern könne, wenn der Westen für eine andere Ukraine bereit wäre „einen Krieg gegen Russland zu führen“. Aus russischer Sicht sei die Ukraine im Moment ein „antirussisches Projekt“ (der NATO, G.J.). Unter Beachtung dieser beiden Befunde – des tatsächlichen Einflussgebiets und der russischen Perzeption des antirussischen Projektes – sei keine Lösung möglich, die der Ukraine einen „NATO-Beitritt durch die Hintertür“ ermögliche. Eine Zusammenarbeit der Ukraine mit dem Westen nach dem Krieg sollte auch eher nicht in Form „eines eher unrealistischen und womöglich schädlichen Beitritts in die EU“ geregelt sein.
Varwick endet: „Der Krieg wird nur durch eine diplomatische Lösung beendet werden“. (Hier denkt Varwick meiner Ansicht nach zu kurz, da er ja oben das „weiter erhebliche Eskalationspotential“ angeführt hatte, also die Gefahr einer Eskalation des Krieges. )
Innerhalb des Rahmens der „diplomatische(n) Lösung“ könne keine Seite „Maximalforderungen“ durchsetzen. Wahrscheinlich sei eine „neutrale Ukraine“, nicht „eindeutig“ auf Seiten des Westens verankert – also eben nicht in NATO und EU, wie ich Varwick verstehe.
Im Moment seien auf dem Weg zu einer Lösung nicht „dauerhafte Lösungen“ realistisch, sondern ein „Einfrieren“.
Insgesamt sollte „bei einer politischen Lösung (…) nicht nur auf die Gerechtigkeit geachtet werden, sondern auch auf Schadensbegrenzung, Stabilität und Gleichgewicht zwischen konkurrierenden Interessen“.
Fazit im Sinne der Friedens-Führung
Varwicks Gedanken bestätigen bisherige Thesen hier in diesem Blog „Friedens-Führung“:
- Probleme eher von einer Position des „nüchternen Interessenausgleich(s)“ angehen statt mit dem „gesinnungsethischen Kompass“ – vor allen Dingen im Konflikt mit einer Atom-Groß-Macht (siehe meinen Artikel: Fiat iustitia et pereat mundus – und die „wertegebundene“ Außenpolitik)
- Einflussgebiete respektieren, auch wenn dies den Verzicht auf „Maximalforderungen“ der Nationen im jeweiligen Einflussgebiet bedeutet (siehe meinen Artikel: 1866- Keine Demütigung des Gegners)
- Bescheidenheit bei der Gestaltung eines schwierigen Friedens-Schlusses statt „Maximalforderungen“ und Orientierung an Doktrinen wie z.B. der feministischen Außenpolitik. Maximalansätze schieben den nötigen Waffenstillstand nach hinten; ein verzögerter Waffenstillstand erlaubt ddem Krieg seine in ihm angelegte „Steigerung bis zum Äußersten“ (zu dieser Tendenz siehe meinen Artikel „Polemos panton pater“)