Bombenstimmung – zwei Offensiven bald möglich …


… und ein Frieden wird von diesen überrollt werden (2.Teil)

Teil 1 enthielt die Information, dass der Leiter des Sonderstabes Ukraine der Bundeswehr, der Brigadegeneral Dr. Christian Freuding, ukrainische Offensiven mit der Rückgewinnung aller Gebiete, die die ukrainische Souveränität ausmachen, für möglich hielt.

Eines seiner Argumente für ukrainische Stärke hatte ich in Teil 1 dieser Artikelreihe nicht erwähnt. Ukrainische Stärke ist gleich russische Schwäche, deshalb wird es in dieser zweiten Folge eher um die russische Seite gehen.

II. Chancen und Gefahren für Russland

Angaben von Militärs

Freuding sieht auf Seiten Russlands ungeheure Verluste, und nennt als Beleg ein Beispiel aus dem Brennpunkt um Bahmut. Pro Tag sollen die dort eingesetzten „Wagner-Verbände“ 500 Mann Verluste haben.

Zum Verständnis:

wenn man ein Verhältnis von 3:1 bei Verwundeten und Toten zugrunde legt, wie es wohl für den Graben-Stellungskrieg-angemessen sein dürfte, so bedeutete dies pro Tag 125 Tote und 375 Mann Verwundete;

die „Wagner-Verbände“ sind keine regulären russischen Verbände aus einheimischen Wehrpflichtigen und Berufssoldaten, sondern Söldner mit einer eigenen Struktur, also Befehlsgebung und wohl auch Gerichtsbarkeit.

Zu den möglichen Verlusten der regulären russischen Streitkräfte äußerte sich Dr. Freuding nicht.

Nachdem ich diese Information nachgetragen haben, wären dies also die Faktoren, die ich in Teil 1 und 2 der Artikelserie für eine Offensive der Ukraine genannt fand.

Mögliche Richtungen von Offensiven beider Seiten

Zwischenzeitlich fand ich noch einen Beitrag des österreichischen Bundesheeres, diesmal jedoch nicht mit dem öfter genannten Oberst Reisner, sondern mit Oberst i.G. Berthold Sandtner. Dieser nannte in einem Beitrag auf Youtube „300 Tage Krieg in der Ukraine …“ als die wahrscheinlichste Richtung einer ukrainischen Offensive einen Vorstoß aus dem Raum Saporischschja bis zur Küste des Schwarzen Meeres östlich der Krim. Ziel: Spaltung der russischen Streitkräfte, Isolierung der Krim. Diese Isolierung könnte noch vollständiger werden, falls es UA gelänge die Brücke von Kertsch dauerhaft zu zerstören. Zur Erinnerung: es ist die Brücke, die die Ukraine zu Putins Geburtstag am 27.11. schon einmal angegriffen und z.T. zerstört hat.

Das Potential an Wehrfähigen

Nicht ganz so optimistisch zu ukrainischen Erfolgen war Oberst Reisner, ebenfalls vom österreichischen Bundesheer, von mir schon öfter erwähnt. Er verwies auf die immer noch großen Ressourcen Russlands und betonte insbesondere die Zahl möglicher Soldaten angesichts eines Volkes von 144 Millionen im Vergleich zu einem Volk von 38 Millionen. Er führte an, dass die Ukraine jetzt schon die 5. Mobilisierungswelle durchführe, was bedeute, dass Männer bis zum 60. Lebensjahr eingezogen werden könnten. Er sieht also eine strategische Abnutzung in der Tiefe, in diesem Falle beim Humanpotential.

Ich möchte dagegen halten, um den Lesern hier eine Schau möglichst vieler Faktoren und Möglichkeiten zu bieten.

Die wichtigste Unterscheidung beim Einsatz von Soldaten bezieht sich auf die Verwendung im eigenen Land oder in fremdem Land. Und da spricht alles für die Ukraine. Die Eingezogenen der 5. Welle würden – wenn UA rational plant – doch wohl eher heimatgebunden als Objektschutz eingesetzt werden, um die dort bisher Eingesetzten für die Front freizusetzen.

Klar werden diese dann Freigesetzten sich nicht freuen, nicht mehr heimatnah eingesetzt zu werden, aber immerhin bleiben sie noch im eigenen Land. Dies bietet Vorteile, gerade auch im Falle der Verwundung.

Jedenfalls sprechen nicht alle Faktoren gegen die Ukraine, wenn man auf die neu Mobilisierten auf beiden Seiten schaut, und dieser Eindruck wird stärker, wenn man auf die russische Seite schaut.

Dort hatten sich ja schon viele der 1. „Teilmobilmachung“ entzogen. Diejenigen, die dann doch eingezogen wurden, sind jetzt also drei Monate wieder an ihre alte Ausbildung erinnert worden. Doch, sie kommen zu Einheiten und an Frontabschnitte, die durch Misserfolge gekennzeichnet sind. Dies hat auf die Moral der Neuankömmlinge negative Auswirkungen, egal, ob die Neuen aufgeteilt werden oder, quasi als 4. Bataillone, geschlossen eingesetzt werden. Weiter, zur Ausrüstung:

a) Technik

Es scheint ja so zu sein, dass die gelieferten westlichen Waffen im Einsatz selbst besser sind, nicht in der Haltbarkeit. Die russischen Neuankömmlinge werden also erst mal mit den Resten der uralt-sowjetischen Waffen oder deren Nachbauten/Modernisierunge/Updates ausgerüstet, was ihre Motivation nicht erhöhen dürfte. Eventuell wird man von ukrainischer Seite auf diese Einheiten noch besonders „einwirken“, quasi als Willkommensgruß.

b) persönliche Ausrüstung

Von General Freuding (s.o.) kommt die Info, dass der Westen auch Spezialausrüstung für den Winterkrieg geliefert habe, während schon die bisherigen russischen Aufgebote nur schlecht ausgerüstet gewesen seien, also z.B keine adäquate Winterkleidung hätten.

Stellungskrieg bei Bahmut, Ukraine. aus: www.wikipedia.org, SChlacht um Bachmut, Version vom 11.1.23, 10.59 Uhr

Ausrüstung, Militärführung und Motivation

Falls das stimmt – und so etwas spricht sich an der Front schnell herum, wie Dezember 1941 bei der Wehrmacht angesichts der gut ausgerüsteten sibirischen Einheiten der Sowjetunion –, so dürfte diese Tatsache das Vertrauen in die russische Militärführung weiter herabsetzen, und damit auch die Motivation. Nun könnte man annehmen, dass die russische Militärführung ihre Soldaten als „härter im Nehmen“ ansähe als ihre vom Westen verweichlichten Gegner; so ähnlich verkündet es ja ihr Präsident mit Blick auf die Zivilbevölkerungen im westlichen Europa. In diesem Falle aber würde diese Militärführung Opfer ihrer eigenen Mythen vom besonders leidensfähigen Russen: keine Führung schickt ihre Soldaten in die härtesten Prüfungen ihres Lebens, ohne das Bestmögliche für diese bereitzustellen. Wenn es dann in einer Zwangslage des Staates nicht möglich ist, dieses Bestmögliche zu bieten, dann ist gerade der russische Soldat auch bereit mit weniger zu kämpfen, nicht aber, wenn dies nur aus Nachlässigkeit seiner Führung geschieht oder als Folge von Korruption(siehe auch den unten stehenden Exkurs). Jedenfalls ist das Gerede vom besonders leidensfähigen russischen Soldaten ideologisch, wie jeder nachprüfen kann, der sich Tolstojs Schilderung der Verfolgung der napoleonischen Armeen durch die Russen im Winter 1812 durchliest.

(Bild aus eigenen Beständen)

Ich sehe also auf russischer Seite als Folge der Misserfolge des ersten Jahres nur schwierige Ausgangsbedingungen. Einen Faktor möchte ich aber nennen, der dieser Bilanz entgegenwirken könnte, einen Faktor, den ich schon einmal im Artikel „Großoffensiven, Wunschdenken, Maßlosigkeit“ erwähnt hatte.

Schon zu den Zeiten von Peter I. oder der Schlacht von Zorndorf 1758 wird die russische Infanterie in ihrer Standhaftigkeit in der Defensive gerühmt. Besonders trifft dies zu, wenn es um die Verteidigung des eigenen Landes geht, s. Borodino 1812.

Eine Szene aus der Schlacht v. Borodino, die allerdings ein französisches Karree und russische Kavallerie zeigt. aus: Falls, C: Große Landschlachten, Frankf./M. 1964, S. 135f.)

Falls es also zu ukrainischen Durchbrüchen in Richtung des russischen Kerngebietes kommen sollte, so erwarte ich eine bedeutende Steigerung der Motivation der Armee, allen bisherigen negativen Einflüssen zum Trotz. Nun zu den neu annektierten Gebieten: Diesen gegenüber dürften besonders bei den neu Mobilisierten kaum patriotische Gefühle herrschen, mit Ausnahme der Krim. Falls es den Herrschenden in Russland gelingen sollte, dieses Gefühl auch für die Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson zu wecken, dürfte der Widerstand stärker werden.

Dies habe ich aber nur erwähnt, um alle Eventualitäten bedacht zu haben. Im Moment glaube ich aufgrund ihrer schlechten Führung im ersten Kriegsjahr nicht, dass die russische Führung dies schaffen wird.

Fazit bzgl. einer Friedens-Führung

Falls der Krieg konventionell bleibt, dürften sich eher militärische Erfolge für die Ukraine ergeben. Politisch müsste „der Westen“ darauf achten, dass diese Erfolge nicht zu groß werden, da eine sich anbahnende russische Niederlage zu leicht zu einer Eskalation führen könnte, von der niemand mehr etwas hätte. Statt „Sieg“ für die Ukraine zu fordern, sollte man deren Teilsiege immer mit dem Bauen von „Goldenen Brücken“ für die Entscheider in Moskau begleiten.

Exkurs zur tieferen Bedeutung der schlechten Ausrüstung der russischen Soldaten

Ich stand bisher noch unter dem Eindruck, dass eine autoritäre Führung, die auch die Gesellschaft umfassend militarisiert, notwendig auch auf ein entsprechendes hohes Niveau der Ausrüstung dieser Armee achten würde. Der in Moskau vermittelte Eindruck ist der einer „schimmernden Wehr“.

Insofern hat mich die Information General Freudings von oben zur schlechten Ausrüstung der Russen zuerst einmal gewundert, da ja die schlechte Ausrüstung im Einzelnen ein Widerspruch zu der glänzenden Fassade ist. Dann aber ließ mich gerade dieser Widerspruch an ein historisches Beispiel denken. Ich will das kurz schildern im Sinne einer historischen Analogie, die ja meist den Sinn hat, das Bewusstsein für mögliche Charakteristika der Gegenwart zu schärfen.

Ich denke an das historische Beispiel des 2. Kaiserreiches in Frankreich. Äußerlich betrachtet eine reine Erfolgsgeschichte, man denke nur an die Neugestaltung von Paris und die großen Erfolge der französisch-kaiserlichen Armee in Nordafrika, im Krimkrieg und im Krieg gegen Österreich (Schlacht bei Solferino). Eine überall glänzende Fassade. Diese Armee geht 1870 siegessicher in den neuen Krieg, sie baut auf ihre unter Beweis gestellte Kriegserfahrung, auch auf die – zum Teil – besseren Waffen, wie das Chassepot-Gewehr und „Neuheiten“ wie die Mitrailleuse (da kommt mir wieder der Gedanke an das russische Geprotze mit den Überschall-Waffen).

Nur:

Dieselbe Armee ist im deutsch-französischen Krieg schon nach gut 2 Wochen in einer Position, die fast zwangsläufig zu den Katastrophen von Metz, Gravelotte/Saint-Privat und Sedan führt. In gut EINEM Monat ist von dieser kaiserlichen Armee nichts Kampfkräftiges mehr übrig. Das Kaiserreich wird gestürzt.

Was war da passiert? Die Armee ging mit einer schlechten Ausrüstung und Dislozierung in den Kampf. Grund für beides war eine allgemeine Verwaltung und eine Militärverwaltung/Intendantur, die durch Korruption gezeichnet war. Und zwar eine Korruption, die dazu führte, dass viele Einheiten ohne die Ausrüstung den Preußen entgegen zogen, die für die Erfüllung ihres jeweiligen Auftrages nötig war.

Friedrich Engels schreibt damals seine Artikelreihe zum deutsch-französischen Krieg. Im 4. Brief heißt es:

„Er (der frz. Hauptmann Jeannerod) stellt ausdrücklich fest, daß die Verteilung des Feldzugsproviants erst am 1. August begann, daß die Truppen nicht genügend Feldflaschen,

Kochgeschirr und andere Lagerutensilien hatten, das Fleisch verdorben und das Brot oft muffig war. Man wird wahrscheinlich sagen, die Armee des Zweiten Kaiserreiches ist bis jetzt von dem Zweiten Kaiserreich selbst geschlagen worden. Von einem Regime, das seine Stützen durch alle althergebrachten Mittel der Geschäftemacherei korrumpieren muß, kann nicht erwartet werden, daß es damit vor der Armeeverwaltung haltmacht. Dieser Krieg war nach dem Geständnis von Herrn Rouher seit langer Zeit vorbereitet; der Anschaffung von Vorräten, besonders von Ausrüstungsgegenständen, war augenscheinlich bei der Vorbereitung die wenigste Aufmerksamkeit geschenkt worden.“ Marx-Engels-Werke, Bd. 17, Berlin (Ost) 1979, S.23

Kann es sein, dass unter der glänzenden Fassade des Putinismus ein ähnlicher Schlendrian und eine ähnliche Korruption dazu führen, dass z.B. die Winterausrüstung mangelhaft ist? Es ist nicht unwahrscheinlich:

  • Die Einmannherrschaft ohne jede Kontrolle dessen, der angeblich alles kontrolliert;
  • Das Oligarchentum, also eine Fortsetzung der Einmannherrschaft im Ökonomischen;
  • Die alte sowjetische Sitte der Tonnagegläubigkeit, die auf die zu liefernde Menge schaut, aber nicht auf deren Qualität. So könnte ich mir vorstellen, dass von einem Rüstungsgut zwar viel an die Front geliefert wird, dort aber nicht funktioniert.
  • Die Tradition der „potemkinschen Dörfer“, also des Aufbaus glänzender Fassaden für den Fall, dass der Zar, der ja bekanntlich weit ist, doch einmal vorbei kommen sollte. So könnte ich mir vorstellen, dass man bei einer Inspektion zwar eine berstend gefülltes Lager an Kleidung vorführte, bei dem aber nur die ersten Regale gute Qualität enthielten, während im hinteren Teil diejenigen Stücke lagen, die wegen mangelnder stetiger Kontrolle schon mal Opfer von Motten oder Mäusen gewesen waren. Wenn dann aber plötzlich große Mengen Kleidung geliefert werden sollen, etwa für die 1. Teilmobilmachung …

Man könnte also von den Auswirkungen auf deren Gründe schließen, auf die innere Verfasstheit Russlands, auch wenn die Geheimhaltung eines solchen autoritären Staates die Sichtbarkeit der Mängel verhindert, bis die Armee und ihre Ausrüstung sichtbar werden, und zwar besonders bei ihren Rückzügen.


Autor dieses Artikels ist:

G. Jankowiak

Sodinger Str. 60

44623 Herne