Nachtrag zur Artikelreihe „Friedensbemühungen im 1. Weltkrieg“ (26.12.22)


Gerade stoße ich in einer Materialsammlung von Burkhard Zimmermann, die ich als E-Mail beziehe, auf den Link zu einem Artikel mit dem Namen „No one would win a long war in Ukraine. The West must avoid the mistakes of World War I“, der in der renommierten Zeitschrift „Foreign Affairs“ unter dem 21. Dezember veröffentlicht wurde. Der Titel würde auf Deutsch lauten: ‚Niemand würde einen langen Krieg in der Ukraine gewinnen. Der Westen muss die Fehler des Ersten Weltkrieges vermeiden.‘

„… die Fehler des Ersten Weltkrieges …“ , klar, dass ich da sofort genauer hinschaute.

Der Autor ist Vladislaw Zubok, Professor für Internationale Geschichte an der Londoner Schule für Wirtschaft („London School of economics“).Mit dem Thema Osteuropa hat er sich schon mehrfach in Büchern beschäftigt, so in dem bekannten: „Collaps. The Fall of the Soviet Union“. Zubok ist an Universitäten und Instituten tätig: der Beginn seiner Karriere war noch in Moskau, zu Beginn der 90er muss Zubok in den angelsächsischen Raum ausgewandert sein, wo er z.B. laut Wikipedia Direktor der „Russian and East European Document Database Project of the National Security Archive“ der George Washington Universität und des „Cold War International History Project“ an dem Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington. Der Mann ist also kein Amateur. Er hat beide Kulturkreise eigenständig kennengelernt, und er ist aus einer Generation, die noch direkt von ihren Angehörigen Kenntnisse zum Zweiten Weltkrieg bekamen, aber auch das Gefühl zum umfassenden Verstehen der Kenntnisse.

Ein Abschnitt des Artikels scheint mir gut zu beleuchten, was ich bisher in meiner Artikelserie „Friedensbemühungen“ so nicht herausgearbeitet, wohl jedoch in den Artikeln „Kairos – Der rechte Augenblick“ und „1866-Keine Demütigung des Besiegten“ angesprochen hatte.

Ich kopiere hier die entsprechenden Zeilen und übersetze sie darunter.

“What is missing, then, is a coherent political plan to bring an end to the suffering, and to reassure Ukrainians that Russia will not begin a new war at the earliest opportunity, even if Putin remains in power. That will require the Russians to accept a defeat but also require the Ukrainians to accept that complete victory may be unobtainable. But if those goals are to be achieved, Western populations will need to accept the end of Russia’s pariah status and its “return to Europe” while providing credible security assurances to Kyiv.”

(Was also fehlt ist eine zusammenhängender politischer Plan dem Leiden ein Ende zu bereiten, und den Ukrainern die Sicherheit zu bringen, dass Russland keinen neuen Krieg zur nächstmöglichen Gelegenheit beginnen wird, selbst wenn Putin an der Macht bleibt. Das verlangt, dass die Russen die Niederlage akzeptieren, aber es verlangt auch, dass die Ukrainer akzeptieren, dass ein kompletter Sieg unerreichbar sein mag. Aber wenn diese Ziele erreicht werden sollen, müssen die Bevölkerungen Westeuropas das Ende von Russlands Paria-Status akzeptieren und seine “Rückkehr nach Europa”, während sie glaubhafte Sicherheitsgarantien für Kiev bereitstellen.)

Ich meine: Eine inhaltliche Einsicht von Zubok, die – wenn man mal von gewissen Worten wie “defeat” absieht – genau das ausdrückt, was fehlt: ein zusammenhängender Plan, der eine Art “win-win-situation” für alle Kontrahenten bereitet. Und zwar ohne Demütigung einer der Seiten.

Warum fordert dies Zubok:

“The longer this war continues, the worse its consequences. World War I toppled great empires and dynasties across Europe, sowed the seeds of World War II, and led directly to the rise of Mussolini and Hitler. Historic feuds between Germany and France over Alsace-Lorraine, and between Serbia and Croatia over Bosnia, led to lethal consequences for both sides. The wounds of these conflicts took generations to heal.

The long-term effects of the war in Ukraine cannot be predicted with any certainty. But an awareness of the destabilizing effects of long and highly destructive wars should prompt reflection of the need for a more comprehensive strategy, one that can offer Ukraine its security and Russia its future. Rather than waiting to react to Moscow and Kyiv’s latest actions or hoping for Putin’s imminent downfall, the West must take the initiative at last.“

(Je länger dieser Krieg andauert, desto schlimmer sind seine Konsequenzen. Der Erste Weltkrieg stürzte Imperien und Dynastien überall in Europa, er säte die Samen für den Zweiten Weltkrieg, und er führte direkt zum Aufstieg von Mussolini und Hitler. Geschichtliche Streitpunkte zwischen Deutschland und Frankreich über Elsass-Lothringen, und zwischen Serbien und Kroatien über Bosnien führten zu tödlichen Konsequenzen für beide Seiten. Es dauerte Generationen die Wunden dieser Konflikte zu heilen.

Die Langzeitfolgen des Kriegs in der Ukraine können nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden. Aber ein Bewusstsein über die destabilisierenden Konsequenzen von langen und höchst zerstörerischen Kriegen sollte ein Nachdenken über die Notwendigkeit einer umfassenderen Strategie anregen, einer Strategie, die der Ukraine ihre Sicherheit anbietet und Russland seine Zukunft. Der Westen muss endlich die Initiative ergreifen, und nicht warten auf Moskaus und Kiews aktuellste Handlungen zu reagieren oder auf Putins bevorstehenden Sturz zu hoffen.)

Ich hoffe, dass diese wenigen Zeilen Lust machen den ganzen Artikel zu lesen, der im Übrigen direkt zu Anfang sehr schöne Bemerkungen zum „Rechten Zeitpunkt“ von Friedensinitiativen enthält, zu Zeitpunkten, die danach nie wiederkehren. Wir haben sie in „Kairos – der rechte Augenblick“ angedeutet.