Gestern schrieb ich Ihnen in dem Artikel „Fiat iustitia et pereat mundus …“ zu den Konsequenzen einer heutzutage hier oft zu beobachtenden Gesinnungsethik.
Heute möchte ich Ihnen noch zwei Beispiele nennen zum Gegenteil dieser Gesinnungsethik, der Verantwortungsethik.
Das erste der beiden Beispiele passt zeitlich und thematisch zu der gestern geschilderten Weigerung der britischen Führung 1939 und 1940 die Sowjetunion (SU) anzugreifen. Diese war ja der britischen Regierung von der Ideologie her feindlich und sie hatte auch gerade Hitler beim Angriff auf Polen geholfen und selbst eine „völkerrechtswidrige“ Invasion Finnlands gestartet hatte.
All diese Entscheidungen fanden unter dem Premierminister Chamberlain statt, der ja damals wie heute für sein „Appeasement“ gegenüber den Nazis kritisiert wird – wenn auch zum Teil zu Unrecht. Nach Chamberlains Rücktritt trat im Mai 1940 der „Falke“ Winston Churchill dessen Amt an. Churchill war bekannt als Warner vor den Nazis, ebenso aber als fast fanatischer Feind des (sowjetischen) Sozialismus/Kommunismus.
Er war also, gesinnungsethisch eingeordnet, ein fanatischer Antikommunist.
Man hätte also erwarten können, dass er zu mindestens sich kritisch äußern würde zu Stalin und der Sowjetunion, oder sogar abwarten würde, dass Nazi-Deutschland und Stalin-Sowjetunion sich gegenseitig schwächten. Wir alle wissen, dass Churchill Angebote Nazi-Deutschlands für ein Bündnis ablehnte.
Welche Haltung also nahm er aber nun als Premierminister in aller Öffentlichkeit zu Stalin und der SU ein? Hierzu ein ganz markantes Zitat. Aus einer Rede im Unterhaus, also vor höchsten politischen Adressaten und in aller Öffentlichkeit, am 8.9.1942:
(meine Übersetzung steht nach dem hier jetzt folgenden Original)
Er lobte zuerst die Widerstandskraft der SU, die „das ganze Gewicht der teutonischen (sic!) Armeen“ aushalte. „I say the whole weight, because, although there are 40 to 45 German divisions facing us in the West (…), these numbers are more than made up against Russia by Finnish, Hungarian, Rumanian and Italian troops who have been dragged by Hitler into this frightful welter. It is a proof of the increased strength which Premier Stalin has given to Russia that this prodigious feat of the resistance of Russia alone to the equivalent of the whole of the Teutonic Army has been accomplished for so long and with so great a measure of success. (…)
It was an experience of great interest to me to meet Premier Stalin. (…) It is very fortunate for Russia in her agony to have this great rugged war chief at her head. He is a man of massive outstanding personality, suited to the sombre and stormy times in which his life has been cast; a man of inexhaustible courage and will-power, and a man direct and even blunt in speech, (…). Stalin also left upon me the impression of a deep, cool wisdom and a complete absence of illusions of any kind. I believe I made him feel that we were good and faithful comrades in this war (…).” (aus: Winston S.Churchill: The End of the Beginning. London 1943, S. 173f.)
(Ich sage, das ganze Gewicht, denn: Obwohl es 40 bis 45 deutsche Divisionen sind, die uns im Westen gegenüberstehen, so werden diese Zahlen mehr als ausgeglichen gegen Russland durch finnische, ungarische, rumänische und italienische Truppen, die von Hitler in dieses angstmachende blutige Wirrwarr hineingezogen worden sind. Es ist ein Beweis der gewachsenen Stärke, die Premier Stalin Russland gegeben hat, dass diese erstaunliche Tatsache des Widerstands von Russland allein gegenüber dem Gegengewicht/Äquivalent der gesamten teutonischen Armee so lange und mit einem so großen Maß von Erfolg geleistet worden ist.
Es war eine Erfahrung von großem Interesse für mich Premier Stalin zu begegnen. (…) Es ist für Russland in seinem Todeskampf sehr glücklich/eine sehr glückliche Sache diesen großen rauhbeinigen Kriegsleiter an seiner Spitze zu haben. Er ist ein man von einer besonders hervorragenden Persönlichkeit, die zu den dunklen und stürmischen Zeiten passt, in die sein Leben geworfen worden ist; ein Mann von unerschöpflichem Mut und Willenskraft, und ein Mann, der direkt und sogar derb in seiner Redeweise, (…). Stalin hat bei mir auch den Eindruck einer tiefen, kaltblütigen Weisheit hinterlassen und (den Eindruck) einer kompletten Abwesenheit von Illusionen jeder Art. Ich glaube ich gab ihm das Gefühl, dass wir gute und treue Kameraden in diesem Krieg waren.“
Fazit aus diesem Beispiel:
Der Antikommunist Churchill, der natürlich über die stalinschen Verfolgungen Bescheid wusste, lobt denselben Stalin in einer Form, die bemerkenswert ist – er hätte dies auch vorsichtiger formulieren können. Als Gesinnungsethiker hätte er es bestimmt nicht unterlassen, Stalin öffentlich zu dämonisieren; er aber handelte hier in seiner Verantwortung für das Gelingen des gemeinsamen Sieges über den gefährlichsten Feind.
Man mag mir entgegen halten: Churchill sagte all dies nur in einer bestimmten Situation – kurz vor Stalingrad und noch kurz vor dem ersten britischen Erfolg gegen Hitler, also vor El-Alamein. Wenn das trotz der unnötigen Überschwänglichkeit so stimmen sollte, so bleibt dennoch:
Der für den Sieg verantwortliche Staatsmann tritt zurück hinter seinen Überzeugungen, handelt nicht als Gesinnungsethiker. Er besteht nicht auf „iustitia“, also auf der Dämonisierung Stalins , denn er möchte nicht, dass „mundus pereat“, die Welt zugrundegeht. (Ich spiele hier an auf das Motto des letzten Artikels über „fiat iustitia et pereat mundus“, dem Artikel über Gesinnungsethiker).
Ein weiteres Beispiel (ich bemühe mich um mehr Kürze)
Der bundesdeutschen Politik gelang eine bemerkenswerte Verbindung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik mit:
der sozialliberalen Ostpolitik!!! (Die bestimmte Kreise heute betont kritisieren).
Diese Ostpolitik gibt das gesinnungsethische Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands „in freier Selbstbestimmung“ (siehe Grundgesetz, Präambel) nicht auf. Es ergänzt dieses Ziel mit der realpolitischen Anerkennung der damaligen Realitäten in Berlin und zwischen BRD und DDR. Dies ist der Teil der Verantwortungsethik.
Wieso ist das Verantwortungsethik:
Ohne die Ostpolitik (die übrigens damals in Washington abgesegnet wurde) hätte es mit höherer Wahrscheinlichkeit mehr Krisen vom Schlage der Cuba-Krise gegeben mit dann sicherlich tödlichem Ausgang. Man vergesse nicht: die deutsche Ostpolitik war eingebettet in erfolgreiche Rüstungskontrollverhandlungen zwischen USA und SU – beide waren wohl zu Tode erschrocken über die Nähe zum Untergang während der Cuba-Krise.
Es war also die Ethik der Verantwortung Eskalationen und der gegenseitigen Vernichtung vorzubeugen.
Auch innenpolitisch, also zwischen den beiden deutschen Staaten, war es höchste Zeit den Menschen wieder die Chance zum Treffen als Bürger zweier Staaten zu geben. Denn die Entfremdung war seit 1945/49 weit fortgeschritten. Die CDU-geführten Bundesregierungen weigerte sich mit der DDR-Führung zu reden, ja, diesen Staat überhaupt anzuerkennen. So war es seit dem Mauerbau unmöglich, dass Ost- und Westdeutsche sich noch direkt trafen – nur Pakete waren noch möglich.
Für alle jungen Leser, die sich in die damalige aufgeheizte Diskussion über: ein Volk – zwei Staaten – zwei Nationen – Nichtanerkennung der DDR usw. kaum noch einfühlen können, möchte ich ein alltägliches Beispiel nennen für eine Gesinnungsethik, die bis zur Vernichtung von menschlicher Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschen ging:
Am jetzigen Tag der Einheit wurde in einer Fernsehsendung berichtet, dass ein Paar (West- und Ostdeutsche) vor der Ostpolitik nur durch ein Entgegenkommen von Erich Honecker persönlich zusammenkommen und heiraten konnte. Denn:
Die bayerische Landesregierung (seit 1945 immer CSU, also Leugner der DDR) weigerte sich die nötigen Heiratspapiere der Braut zu akzeptieren, weil dort stand, die Braut sei „Bürgerin der DDR“. Da CDU und CSU in
totaler Gesinnungsethik
die Existenz eines 2. Deutschen Staates namens DDR leugneten, konnten sie auch kein (Heirats-)Dokument akzeptieren, in dem von diesem 2. Deutschen Staat die Rede war.
Fazit:
Wer nur einer Gesinnung folgt, also möchte, dass sich die Welt nach seinen Werten richtet, ohne Realitäten anzuerkennen, sorgt leicht dafür, dass sich die Realitäten gar nicht ändern oder dass Konflikte sogar so entarten, dass ‚die Welt zugrunde geht‘ (pereat mundus)