Versailles II – Vorläufige Fassung!!!!!


Versailles II – spezifische Probleme mit dem Prinzip des Nationalstaates/des Selbstbestimmungsrechts der Völker

Im Artikel „Versailles I „ging es besonders um den Unterschied zwischen Grenzbestimmungen in dynastischer Zeit und jetzt in Versailles in demokratischer Zeit.

DAS Hauptproblem in Versailles war die Auflösung der früheren VielVölker-Imperien in Nationalstaaten dieser vielen Völker.

Bei der Darstellung dieser Probleme beziehe ich mich hauptsächlich auf die Bände: Der vergessene Weltkrieg, von Wlodzimierz Borodziej und Maciej Gorny, die 2018 in deutscher Übersetzung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen. Bürgt schon dieser Erscheinungsort für eine gewisse Wissenschaftlichkeit = Verlässlichkeit, so wird dies noch sicherer durch die beiden Autoren. Borodziej, geboren 1956, ist seit 1996 Professor am Historischen Institut der Universität Warszawa/Warschau, Gorny,  geboren 1976, außerordentlicher Professor am Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften (Warszawa/Warschau). Meist zitiere ich aus dem zweiten Band mit folgender Angabe ohne erneute Nennung der beiden Autoren: II = römische Zwei für den Band, S. für die Seite in dem betr. Band.

Das Hauptproblem beschreiben die Autoren so:

„Nach dem Selbstmord der Imperien erstreckte sich die ostmittel- und südosteuropäische Erbmasse von Finnland bis Rumelien und darüber hinaus bis nach Kleinasien, wo die Interessen Griechenlands und der Türkei aufeinanderstießen. Clemenceau, Lloyd George und Wilson konnten unmöglich alle, ja nicht einmal die grundlegenden Probleme kennen, die sicch mit der Aufteilung dieses Nachlasses unter der Vielzahl der mehr oder minder legitimierten Erbberechtigten verbanden. Vielmehr erkannten sie im Verlauf der Konferenz, dass das neue Prinzip der Selbstbestimmung in der Praxis sehr unpraktisch war, dass es neue Konflikte schuf, ohne die alten zu lösen, und dass es der Heuchelei und Lüge Tür und Tor öffnete. Dass der im Vorfeld von Wilson beschworenen abstrakten Gerechtigkeit nicht Genüge getan werden könne, mussten sie bereits vor der Konferenz geahnt haben. „(II, S. 423)

(Bemerkenswert hier schon: Prinzip-Praxis-Praktisch => fiat iustitia et pereat mundus = „abstrakte Gerechtigkeit“; Verweis auf Konflikt GR TR, s. Lausanne 1923; riesiger (unbekannter) Raum)

„Zwischen Ostsee, Adria, Schwarzem Meer und Ägäis lebten – oft in denselben oder benachbarten Dörfern oder in derselben Straße – Esten, Letten, Russen, Litauer, Juden, Deutsche, Weißrussen, Polen, Ukrainer, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Rumänen, italiener, Türken, Griechen, Tataren, Armenier, Österreicher,  Slowenen, kroaten, Serben und Albaner, gar nicht zu reden von weniger bekannten ethnischen Gruppen oder Glaubensgemeinschaften. Niemand wusste, was Selbstbestimmung  in einer solchen Situation bedeutete. Wirklich das Recht auf einen Nationalstaat? Oder ging es eher um Autonomie beziehungsweise weigeheende Selbstverwaltung? (II, S. 419f.)

Und was, wenn ein umstrittenes Territorium keine zahlenmäßig, wirtschaflich und kulturell dominierende ethnische Gruppe aufwies und schon lange zu einem anderen Staat gehörte? Die einen beriefen sich in solchen Fällen auf historische Rechte, andere auf die relative Mehrheit gegenüber den Nachbarn (oder umgekehrt auf die zivilisatorischen Verdienste der „eigenen“ Minderheit für das jeweilige Gebiet), wieder andere auf ihren Beitrag zumsieg der alliierten im Weltkrieg, strategische Gründe oder geheime Zusatzvereinbarungen zu Abkommen aus der Kriegszeit. Politiker und Experten argumentierten mit sprachlicher Verwandtschaft, beriefen sich auf tatsächliche oder erfundene Kulturgemeinschften und propagierten die Befreiung der „Brüder“ von – am besten jahrhundertelanger – fremder Unterdrückung.“II, S. 420f.

Aktualisierung

Hier muss ich einmal kurz aktualisierend einhaken! Alles hier Genannte traf damals auf die historische Situation zu; man kann aber auch einmal Elemente dieser Aufzählung auf den heutigen Krieg (nein, nicht „militärische Spezialoperation“) zwischen Russland und der Ukraine übertragen.

Wie viele dieser Argumente werden von der einen oder anderen Seite aufgefahren, um aktuelle Ansprüche zu legitimieren? Wer hat die Möglichkeit die heute dort wirklich ausharrenden Menschen zu fragen, ob sich irgendjemand von diesen Menschen diesen Krieg angesichts ihrer Erlebnisse seit dem 24.2. noch einmal für die jetzige „Lösung“ der Gewalt entscheiden würde? Würde nicht die übergroße Mehrheit der jetzt wirklich Leidenden fast jede andere Lösung vorziehen, wenn man die Zeit noch einmal zurückdrehen könnte?

 Aber es wird weitergekämpft, und die jeweiligen Führungen befehlen die Weiterführung und die Eskalation. Sie berufen sich

auf die „historischen Rechte“,

auf die eigene „Mehrheit“ im betreffenden Gebiet

oder die Verdienste der eigenen „Minderheit“,

oder den „Beitrag zum Sieg“ im 2. Weltkrieg,

oder auf „Abkommen“ aus Zeiten, aus denen keiner mehr lebt,

oder die „sprachliche Verwandtschaft“,

oder die eigene „Kulturgemeinschaft“,

oder die Befreiung von „Brüder(n)“ in „Unterdrückung“.

(Damit es nicht übersehen wird: alle Zitate aus meiner Liste stammen aus dem Buch von Borodziej und Gorny über 1918-1923 —– und sie passen alle noch heute auf den Konflikt.)

Bleiben wir bei den historischen Erfahrungen, besonders,  weil es ja immer um Volk,  Kulturgemeinschaft, Mehrheit geht, und weil ich ja schon im Artikel zum Berliner Kongress im Vergleich zu Minsk II (nach den Informationen aus Wikipedia) herausgestellt hatte, dass es in Minsk II bei Abschluss der  Konferenz keine Landkarte mit den jeweiligen Positionen gab. Also, es geht jetzt um das Beweisen der eigenen Ansprüche (Volk, Kultur, Raum, Geografie, Strategie, Mehheit usw., siehe oben) durch Geografie und Karten:

Jede Nationalität Mitteleuropas verfügte über ein eigenens Repertoire stastischer  und kartografischer Tricks. Wo die Statistik nicht weiterhalf, verrsuchte man es mit bunten Karten.  Es bedürfte einer umfangreichen Monografie, um alle arten von kriegs- und friedensbedingten kartografischen Manipulationen zu analysieren. Die Landkarte war ebenso effektiv wie ein reißerisches Plakat, doch allein die Tatsache, dass es sich um eine Landkarte handelte, machte sie vertrauenswürdig, authentisch. Mehrfach sollten verfälschte Landkarten irrige Argumentationen stützen. Die offensichtlichsten Fälle betrafen den Balkan.“ (II, S. 413)

Dies hier schrieben nicht die von mir hier meist zitierten Borodziej/Gorny, sondern eine von diesen zitierte zeitgenössische Quelle: der Geograf und Chefberater der damaligen US-Delegation bei den Versailler Verhandlungen, Isaiah Bowman!!!

(Im Rückblick auf den Raum des ehemaligen Jugoslawien seit 1989 muss man hier wohl bemerken,  dass die Grenzfestziehungen auch Ende des 20. Jahrhunderts wieder Ströme von Blut kosteten – mit all den genannten Faktoren als Eskalationselement und Propagandamöglichkeit)

Nun möchte ich noch zwei weitere Vergleiche zwischen den Vorgängen 1878 und denen 1919 anstellen:

Die Vorbereitung der Konferenz

Da lesen wir bei Borodziej/Gorny folgendes:

Die ersten Wochen der Konferenz verliefen chaotisch. Zwar hatte das britische Foreign Office ein historisches Gutachten zum Wiener Kongress von 1815 erstellen lassen, doch die Lektüre erwies sich als wenig hilfreich – hundert Jahre zuvor waren die Entcheidungen im Kries der Pentarchie gefallen. Damals drohte keine Revolution und niemand beabsichtige, die Tschechen, Griechen oder Polen anzuhören, ganz zu schweigen von den Ruimänen oder Ukrainern, von deren Existenz man nicht einmal etwas ahnte. 1815 hatte noch niemand von Vietnamesen oder Saudis gehört, während die Pariser Konferenz sich nicht nur mit Europa, sondern auch mit dem Fernen, Mittleren und Nahen Osten befassen sollte. Und natürlich mit den Kolonien – die Aufteilung der deutschen Hinterlassenschaft bedeutete ebenfalls einige Arbeit.“ (II, S. 408)

Und, damit wir uns nicht immer auf eine Quelle stützen, hier etwas aus der Einleitung zu Wilsons 14 Punkten aus dem halboffiziellen US-National Archives:

Den Einzelheiten der Rede (gemeint ist die Wilsons mit den 14 Punkten) lagen Berichte zugrunde, die von „The Inquiry“ erstellt worden waren, einer Gruppe von ca. 150 politischen und sozialen Wissenschaftlern, die von Wilsons Ratgeber und langjährigem Freund, Oberst E.M.House organisiert worden waren. Es war ihre Aufgabe die Politik der Alliierten und der USA in praktisch jeder Region des Globus zu studieren und ökonomische, soziale und politische Fakten zu analysieren, die wahrscheinlich in Diskussionen während der Friedenskonferenz aufkommen würden. Das Team begann seine Arbeit im Geheimen und produzierte und sammelte am Ende fast 2000 einzelne Berichte und Dokumente zusätzlich zu mindestens 1200 Landkarten.

(„The details of the speech were based on reports generated by “The Inquiry,” a group of about 150 political and social scientists organized by Wilson’s adviser and long-time friend, Col. Edward M House. Their job was to study Allied and American policy in virtually every region of the globe and analyze economic, social, and political facts likely to come up in discussions during the peace conference. The team began its work in secret, and in the end produced and collected nearly 2,000 separate reports and documents plus at least 1,200 maps.“)

(https://www.archives.gov/milestone-documents/president-woodrow-wilsons-14-points)

Eine erstaunliche Tatsache:

Die Konferenz, die nachher so schwierige und meist nicht lang gültige Ergebnisse hervorbrachte, war: umfassend vorbereitet!!!

Gut, das vorvorige Zitat aus Borodziej/Gorny weist auf den Unterschied zwischen dem Wiener Kongress 1815 und dem von Versailles im Umfang und der Komplexität der Themen hin. Aber es scheint mir noch eine zweite Erklärung notwendig zu sein: Die Konferenzführung. Denn: die Vorbereitung des Berliner Kongresses war auch – den Verhältnissen entsprechend – umfangreich und gründlich.

Zum diesem kOngress wissen wir ja schon aus meinem Artikel ………………., dass Bismarcks Konferenzführung energisch war; man darf sich allerdings nicht vorstellen, dass das bedeutete, Bismarck hätte den vertretenen europäischen Großmächten etwas befehlen können. Das „energisch“ muss etwas anderes bedeuten.

Vielleicht hilft der Rückblick auf eine andere historische Entscheidungssituation. Mir kommt da eine Situation in den Sinn, die ich bei Tolstoj in „Krieg und Frieden“ gelesen habe: Der Kriegsrat der Alliierten vor Austerlitz. Er ist hervorragend vorbereitet vom österreichischen Generalstabschef, …………………………. . Ausführlicher hätte ein Schlachtplan gar nicht sein können. Aber hören wir Tolstoj selbst:

Mein Fazit im Sinne einer „energischen“ Konferenzvorbereitung und -führung:

  • Es braucht weiter einen möglichst unparteiischen Vermittler, der möglichst umfassende Kenntnisse haben muss. Die umfangreichen Kenntnisse, die sich GB und die USA in den beiden Zitaten oben vor Versailles beschafften, sind dabei nützlich als Rückgriff für diesen Vermittler bei auftretenden Konflikten; das heißt nicht, dass er und sein Stab sie im Vorfeld alle gelesen haben müsste.
  • Im Moment hätten Vermittler bei den jetzt vorhandenen Konflikten es leichter als die in versailles, weil es jetzt nur um regionale Konflikte geht, mögen diese auch in den oben genannten Feldern genauso kompliziert sein wie 1919.
  • Im Falle der Ukraine sind die Verhältnisse nicht mehr so komplex wie 1919, weil es seitdem eine weitgehendere Auseinandersiedlung der Ethnien/Völker gegeben hat; es gibt nicht mehr so viele Ethnien/Völker in dem betr. Raum in Siedlungs-Gemengelage.
  • Es scheint besser, die eigentliche Konferenz in den Hauptpunkten wie 1878 energisch durchzuziehen, und Details für spätere Kommissionen aufzusparen. In Versailles versank man statt dessen zuerst in einer Vielzahl von Konferenzführern, um schließlich bei den „Großen Drei“ zu enden, die dann gar nicht mehr so demokratisch vieles entschieden.. Denn: Es entspricht auch allgemein eher dem Wesen des Menschen, kritische Situationen zuerst zu meistern, um sich danach Einzelheiten dieser Situationen zu widmen, als zuerst zu versuchen, viele Einzelheiten mit Stimmrecht ganz Vieler zu entscheiden, um sich nach dem Scheitern dieses „Offenen Anfangs“ erschöpft einem Diktat Weniger zu unterwerfen.